Arsch hoch!
15. September 2015
Von Bartholomäus von Laffert
Nein, es gibt in diesen Tagen keine Entschuldigung, den Schutzsuchenden nicht zu helfen. Auch keine Ausreden! Es ist unsere Pflicht nicht wegzusehen, wenn der Staat sich burn-out-mäßig blamiert.
Ungarische Grenzpolizisten looking at refugees
Bild: jib-collective.net

Ja, die deutsche und die österreichische Politik sind völlig überfordert mit ihrer selbstgesetzten Verantwortung. Ja, ohne die aufopferungsvolle Arbeit ehrenamtlicher Helfer wäre Deutschland unter der Last der 5000 Schutzsuchenden, die seit Anfang September täglich ankommen längst zusammengeklappt. Angela Merkel weiß das. Schien es schon gewusst zu haben, als sie vor zwei Wochen ankündigte, Syrer nicht mehr nach dem Dublin-Verfahren abzuschieben und Sonderzüge nach Ungarn zu schicken. Zumindest hat sie darauf spekuliert. Dass die Zivilbevölkerung abfedert, was die Politik unmöglich schaffen kann. Nur deshalb sitzen Tausende Schutzsuchende nicht länger in ungarischen Gefängnissen und Lagern oder an Transit-Bahnhöfen fest. Den Helfern sei Dank!
Doch kleiner werden die Aufgaben nicht. Und die Bundesregierung hat Angst, dass den Helfern die Luft ausgeht auf diesem Langstreckenlauf ohne Zielfähnchen. Dass Laienhelfer und Dolmetscher einknicken unter der kaum stemmbaren Verantwortung. Deshalb hat sie am Sonntag die Grenzen dichtgemacht. Ist es der Versuch, die Helfer zu entlasten? Die Kapitulation vor der Verantwortung? Oder will man kurz vor dem Oktoberfest die Heile-Welt-Seifenblase müßig zusammenflicken, die vor drei Wochen ein Lastwagen mit 71 Leichen erbarmungslos zerfetzt hat?
„Es gibt kein Grundrecht auf besseres Leben“, stellte der unkooperative ungarische Premier Viktor Orbán letzte Woche in einem Interview klar. Wer hat uns Europäern das Recht auf ein gutes Leben geschenkt? Der Storch, der liebe Gott? Oder haben wir noch im Geburtskanal die geopolitische Lage studiert und gedacht: gute Wirtschaft, Demokratie. Mensch, Europa wäre ja eigentlich keine schlechte Idee?
Wer jetzt Grenzen schließt, ist ein Barbar
Es ist ein Fortschritt, dass sich die meisten Mitteleuropäer inzwischen dem Privileg ihrer Herkunft bewusst sind. Es ist höchste Zeit, dass sie sich auch ihrer Verantwortung bewusst werden. Verantwortung denen gegenüber, die aus Versehen nicht in Deutschland, sondern in Syrien, Afghanistan oder dem Irak auf die Welt kamen. Wer sich einmal am Bahnhof durch die ankommenden Menschen geschoben hat, schmeckt bitter-süß, wie leicht es einen selbst hätte treffen können. Zeit aufzuhören, sich über unfähige Politiker zu beklagen. Zeit den Arsch vom Computer weg in die Realität zu heben! Nicht denen hinterherzuhecheln, die proklamieren, Deutschland locke mit Zuckerbrot! Die Menschen kommen nicht, weil die Zu- und Umstände hier gut sind. Sie kommen, weil sie weniger schlecht sind. Weniger menschenunwürdig.
Wer jetzt die Grenzen schließt, ist ein Barbar. Der Lastwagen, der gestern noch vor Wien stand, steht vielleicht morgen schon in Rosenheim. Menschen, die Bürgerkrieg und ungarische Lager kennen, lassen sich von Grenzkontrollen nicht einschüchtern. Die Schleuser, die ihr Geld mit Menschenleben machen, erst recht nicht. Sie finden ihre Wege, ganz egal wo, ganz egal wie. Statt in der europäischen Wirtschaft landen Berge von Geld auf dem Schwarzmarkt. Statt europäische Sicherheit finanziert es Terror in Syrien und anderswo.
Gegen das Aussitzen, Wegreden, Wegsehen
Ganz nebenbei droht das viel gelobte Projekt Europäische Union in die Nationalstaaten zu zerbröseln, deren Grenzen sie eigentlich zerschlagen wollte. Ungarn regiert seit Wochen autonom, setzt EU-Richtlinien außer Kraft. Dänemark lässt schon seit letzter Woche keine aus Deutschland kommenden Züge mehr passieren, Deutschland selbst machte am Sonntagnachmittag die Schotten dicht. Österreich, Niederlande, Tschechien und die Slowakei verschärfen die Grenzkontrollen. Einzig das Versagen der europäischen Politik ist grenzenlos.
Es sind nicht die Helfer, die Menschen von den Bahnhöfen und Heimen, die jetzt anfangen über Flüchtlinge zu klagen. Es sind die, die vom PC aus zusehen. Die, die der CSU-Rhetorik beipflichten, die den Schutzsuchenden ihre Fluchtgründe abzusprechen versucht. Sie erschweren den Ehrenamtlichen die effiziente Hilfe anstatt selbst mitanzupacken. Versuchen lieber auszusitzen, wegzureden, wegzusehen.
Schaut hin! Es sind Menschen, die da kommen. Keine Schwärme, Ströme oder Fluten. Menschen mit Haut und Haaren. Menschen, denen wir als Menschen helfen müssen. Helfen dürfen. Ist es nicht Privileg genug, dass uns selbst nicht geholfen werden muss?
Hier geht’s zum Bahnhof:
München ist bunt
Trains of Hope Wien
Flüchtlingshilfe Dortmund
Flüchtlingshilfe Frankfurt am Main
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