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Für *Geschäftsleute

Bockwurst vor Schönheit

22. Juni 2015
Von Caroline Schmitt

Caro weilte mit Kuli und Aufnahmegerät an einem Ort, den andere schnell verlassen: auf der Holzbank eines Spätis im Berliner Hochglanzviertel Wedding. Was sie dort erlebte, brachte ihre Synapsen zum Glühen. Eine Geschichte von Frauenhelden, Raubmördern und Teddybären

Der Ort des Geschehens

Der Ort des Geschehens

Ein Berliner Späti ist kein Ort, an dem du Wurzeln schlägst. Man tritt ein, hält sich höchstens zwei Minuten in seinem Inneren auf und kehrt ihm dann wieder den Rücken zu, um dem eigenen Chaosleben einen sanften Bierstich zu verleihen. Aber nicht heute. Zwei Wochen ist es her, dass es in meiner WG ordentlich Krach gab, so richtig mit Geschrei und knallenden Türen – ganz schlecht für den Seelenfrieden ist das. Jedenfalls musste der brutzelnde Gemüseauflauf jetzt von irgendjemand anderem gegessen werden: "Ih, viel zu viel Rosmarin, Caro!", schmatzte Akan. Ihm gehört der Späti drei Häuser weiter. Sein Teller war in zwei Minuten leer, und wir waren Freunde.

Heute setze ich mich dekadent in Akans Hinterzimmer, da „tobt nämlich das echte Leben, Junge!“ Er erzählt mir das jeden Abend, wenn ich zur Tür hineinhusche. Jetzt bleibe ich einfach mal sitzen und überlasse dem Leben die Sache mit dem Geschichteschreiben. Wird wahrscheinlich nicht so ästhetisch, das Ganze, ist ja schließlich Wedding (das mit dem Hochglanz war gelogen). Aber Ästhetik ist ja auch eher todlangweilig.

17.26 Uhr
Gleich am Anfang lerne ich Herrn Rakel kennen. Der Mann ist ein lebendes Stück Zeitgeschichte, sagt Akan. Der Aschenbecher wird mit jedem seiner Sätze voller. Herr Rakel könnte aber jederzeit mit dem Rauchen aufhören, sagt er. „Den Adolf hab ich mal auf der Straße gesehen. Müllerstraße. Ganz ohne Leibwächter. Und während der Olympischen Spiele gab's in München keine Zimmer, so was hab ich noch nicht erlebt. Den beschissensten Urlaub meines Lebens hab ich in Griechenland gemacht. 5.000 Mark für nix!“
„Und sonst so?“
Dann erzählt er von Hannah und den Kippen. Hannah war „der Hammer“, seine Kippen – die er seit seinem 14. Lebensjahr gemütlich und stets heimlich vernichtete – fand sie nicht so doll. „Als sie im Krankenhaus lag und uns nicht mehr viel Zeit geblieben war, hab ich nach jahrelanger Pause wieder angefangen. Als mein Gesicht ganz nah an ihrem war, sagte sie: ‚Du hast also wieder angefangen.‘ Aber sonst hat sie mir nie Vorwürfe gemacht. Nie. Wegen irgendwas. Das war 'ne Tolle. Ich hatte ganz großes Glück.“
„Sie Süßer. Sie machen mich ja ganz verknallt in Hannah. Und jetzt?“
„Jetzt versuche ich, das alles zu verdrängen, deswegen will ich auch über die Jahreszahlen, über die du mich hier ausfragst, nicht nachdenken. Ich will das ja vergessen.“

Hier ist das wahre Leben

Hier ist das wahre Leben

18.04 Uhr
„Hahaha! Da kommt er!“, lacht Akan. „Caro, der ist richtig gestört!“ Die Rede ist von Roland. Alle Anwesenden diskutieren zehn Minuten lang, ob der nun 24 oder 26 Jahre irgendwas getan hat. Dass er diese Zeit lang wegen Raubmord im Knast saß, erfahre ich erst später. Die Entlassungspapiere hat er Benno nämlich mal gezeigt. Keine Ahnung, wer Benno ist, aber er scheint 'ne vertrauenswürdige Quelle zu sein. Der dicke Roland, noch unschuldiges weißes Blatt, setzt sich mit einem Ächzen hin.
„Na? Wer bist du denn?“ , fragt er lasziv.
Sind wir hier im Zoo oder was? „Ich heiße Caro“, sage ich. Erster Fehler.
Dann fragt er mich aus und lässt zwischendurch unauffällig durchblicken, dass er ein großer Frauenheld ist. „War!“, schreit Akan aus dem Nebenzimmer.
„Sag mal, du Caro, früher waren die Drogen ja viel besser. Heute weißt du gar nicht mehr, was für Zeug da alles drin ist. Da muss man sehr aufpassen.“
„Mhm.“ Zweiter Fehler.

18.20 Uhr
„Sag mal, du Caro, ich wohne in der Nummer 25, klingle am dritten Schild von oben, drei Mal, dann mach ich auf und dann knallen wir 'nen Wein. Trinkst du Wein? Und dann lege ich ein bisschen auf. Meine Wohnung ist ein Paradies, wenn du auf Wein und Platten stehst. Tust du doch, oder?“
Akan kichert.
Zwischendurch wird's still. Im eigenen Kopf ist es aber ja zum Unglück nie richtig still, puh. Meine Gedanken schweifen ab zu einer Geschichte über Schönheitsideale, die ich mir heute Nacht noch aus den gerade etwas lieblos manikürten Fingern ziehen muss. Wenn man sich einreden kann, man sei schön, sexy und ganz und gar unwiderstehlich, so lange, bis es das arme Gehirn endlich glaubt, können dann Synapsen auch einen Namen rufen, wenn sie zu oft an jemanden denken? Egal.
Rolands zerkokste Synapsen jedenfalls drehen gerade durch. Breitbeinig sitzt er auf der Holzbank und guckt mir schamlos direkt in die Augen.
Als meine Schmerzgrenze erreicht ist, und natürlich ist das mal wieder viel zu spät, geht er irgendwann. Dann erfahre ich das mit dem Knast.

18.34 Uhr
Jetzt gibt's Abendessen. Oder wie man eine Fünf-Minuten-Terrine mit Bockwürsten aus der Dose sonst nennt. „Richtig geil!“, lacht Akan vergnügt, als sich mein Gesicht verzieht.
„Was willst du denn so hören? Wedding ist ehrlich. Aber du kannst den Leuten nicht vertrauen.“ Er steckt sich noch eine Wurst in den Mund. „Affengeil schmeckt das, sag ich doch!“
Nebenan wohnt ein geiziger Anwalt, der sei spezialisiert auf thailändische Nutten. Aha. Die Prostituierten kommen zur Beratung, das sind meistens Aufenthaltsgeschichten. Seine Frau ist übrigens auch Thailänderin, die arbeitet auch da, glaubt er. Hui.
Zwei Stunden später läuft der Anwalt vorbei. Ich renne raus. Sieht unscheinbar aus, aber halt auch nicht ganz nach Harvey Specter.
„Bei Prostituierten muss man sich wenigstens nicht mit der Liebe rumschlagen.“
Ich weiß, dass er das nicht so meint, er ist ein etwas zu groß geratener Teddybär, auch im Herzen, aber weil wir das hier gerade aufnehmen, frage ich trotzdem nach.
Er meint's nicht so.

Hier ist Kultur

Hier ist Kultur

18.50 Uhr
Ab und zu haut Akan Brüller raus. So wie den hier: „Jeder will hier mit dir befreundet sein, und dann bumsen sie dich. Das ist wie im Knast.“

19.36 Uhr
„Mein letzter Mitarbeiter hat gesoffen. Paul. Seit einem Monat hab ich das gemerkt. Falsche Rechnungen und so. Als er einmal zwölf Bier in zwei Stunden gesoffen hat, war‘s vorbei. Da hab ich ihn den Kunden gezeigt, damit der später nicht sagt, ich hätte mir das ausgedacht. Wenn mir so was nicht sofort auffällt, kann ich den Laden hier in 'nem Monat dichtmachen. Ich halte mir immer so drei bis vier Leute als Ersatz warm. Ich verdiene nur ein kleines bisschen mehr als ein Hartz-IV-Empfänger.“

20.15 Uhr
„Zehn Prozent von all dem Essen hier hab ich probiert. Ich hab einen Chauffeur, mit dem fahre ich einkaufen, wenn das mit der Lieferung klappt. Helmut. Der ist 59, Rentner, ein cooler Typ und ziemlich langweilig.
Alle Lebenswege der Menschen kreuzen sich hier. Das ist wie ein Kulturzentrum.“
„Nur statt Kultur gibt‘s hier wohl eher Bier.“
„Ey! Mach meinen Laden nicht schlecht. Das ist das wahre Leben hier, echtes Theater.“

20.50 Uhr
Dann erzählt er von der Gypsy-Party. „Die Kinder sind voll abgegangen! Die ganze Decke hängt immer noch voller Luftballons. Aus einem ist die Luft raus. Die gehen ab ohne Ende! Ich bin da ein bisschen neidisch. Und nebenan machen die regelmäßig Gang Bang Partys. Da wohnt ein Fotograf, der dreht Pornos und knipst Aktfotos. Aber pssst, erzähl das keinem!“
Das Aufnahmegerät läuft weiter.

21.18 Uhr
Jetzt wird's langweilig. Einsilbige Kunden, Pakete, Münzen, Kippen. Mein Blick schwelgt andächtig über die Bierkisten. Wie viele stehen da? 40. Auf dem Boden liegt ein ausgestecktes Uraltradio. Das käme auf der Party gut, die ich gleich schwänzen werde.

21.55 Uhr
Intelligente sind suizidgefährdet, sagt Akans Freund. „Ich hab 'nen IQ von 135. Ich hab sogar mal bei der Psychiatrie angerufen, ich hatte da so 'ne Phase.“
Aha.

22.05 Uhr
Akans Freund nimmt sich eine Flasche Wodka mit und bittet um drei Plastiktüten. „Das teure Zeug! Wenn das ausläuft, ey! Scheiße jetzt, ich muss los, mein Zug geht in zehn Minuten!“
Akan trinkt selten und nie auf der Arbeit. Das ist Prinzipsache. „Seit ich hier angefangen habe, hab ich ein Bier getrunken. Eins!“

22.30 Uhr
Bis ein Uhr nachts wollte ich bleiben, doch ich mache schlapp. So viel echtes Theater, so viel Kultur, so viel ungetrunkenes Bier sind dann doch viel anstrengender als ein paar Stunden schreibender-, fotografierender- oder tanzenderweise durch die Stadt zu laufen. Ich weiß nicht so recht, wo Herr Akan genau die Energie hernimmt, das jeden Tag durchzuziehen, sich auf jedes "Tach!", auf jedes "Tschüsselchen!" und auf jede Pöbelei neu einzulassen. Egal, am Ende hab ich rosarote, aber verglühte Synapsen, völlig verrauchte Haare und ein Jobangebot (er muss sich ja schließlich immer drei bis vier Leute warmhalten). Meine Handynummer hat nur Herr Rakel gekriegt.


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