Die nächste Generation
8. Mai 2015
Von Laura Díaz und Lisa Philippen
Immer weniger Menschen haben den Holocaust selbst erlebt. In einigen Jahren wird es niemanden mehr geben, der aus erster Hand davon berichten kann. Aber ihre Erinnerungen dürfen nicht sterben.
Leon und Evamaria Loose-Weintraub in Auschwitz

Es ist keine einfache Reise für Evamaria Loose-Weintraub. Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz ist sie mit ihrem 89-jährigen Mann Leon, einem der Überlebenden, nach Oswiciem (Auschwitz) gereist. Die Vergangenheit ihres Mannes war für die 71-Jährige lange Zeit nur ein dumpfer Begleitton, im Alltag selten präsent. Seit einigen Jahren hat sich das geändert. Leon Weintraub möchte seine Geschichte weitertragen, geht in Schulen und spricht mit Journalisten. Seine Frau Evamaria begleitet ihn dabei: als Zeugin seiner Geschichte.
Sie besuchen Auschwitz mit Ihrem Mann schon das dritte Mal. Wie kam es beim ersten Mal dazu?
Das war 1991, nach dem Fall der Mauer. Unsere Tochter Emilia war zu der Zeit 15. Emilia und ich waren es, die gesagt haben: Nun sind die Grenzen offen, wir können doch mit dem Auto und der Fähre fahren, zuerst auf die Insel Rügen und dann sehen wir einfach mal weiter. Leon wollte uns Auschwitz zeigen, auch wenn es ihm schwerfiel. Wir sind dann zuerst nach Krakau gefahren und von dort nach Auschwitz. Dieser Tag war schrecklich und traurig, besonders für Emilia, aber sie wollte unbedingt dabei sein. Nach diesem Besuch waren wir noch einmal in Birkenau – und nun sind wir beiden wieder hier, zum 70. Jahrestag der Befreiung.
Sie sind jünger als Leon und werden Ihren Mann vermutlich überleben. Sehen Sie sich als Zeugin seiner Geschichte?
Wir haben das schon thematisiert, ja. Leon spricht zwar mittlerweile sehr oft in Schulen und hält Vorträge, aber wir fragen uns schon, wie es weitergehen soll, weil die Zeitzeugen von Jahr zu Jahr weniger werden. Manche sind ja auch nicht mehr in der Lage zu sprechen. Wir fahren auch jedes Jahr nach Flossenbürg, das ist das letzte KZ, in dem Leon war. Dort treffen wir andere Zeitzeugen. Im letzten Jahr haben die angeregt, die nächste Generation mitzunehmen. Leons ältester Sohn aus erster Ehe ist dann mitgekommen und hat später gemeinsam mit Leon vor Schülern gesprochen.
Hat Sie die Vergangenheit Ihres Mannes am Anfang der Beziehung abgeschreckt?
Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil. Leon ist ein sehr intellektueller Mensch, sehr lebhaft, extrovertiert und belesen. Er hatte damals schon einen großen Bekanntenkreis. Ich habe zwar auch studiert und viel im Ausland gelebt, aber in dieses Umfeld und diese gesellschaftlichen Kreise wäre ich ohne ihn wahrscheinlich nie reingekommen. Das Leben mit ihm hat mich sehr bereichert.
Sie selbst sind Deutsche. Welchen Hintergrund hat Ihre Familie?
Wir waren Protestanten. Meine Eltern stammten aus Pommern und lebten in Stettin. Als der Krieg kam und die Rote Armee näher rückte, musste meine Mutter mit den Kindern nach Rügen flüchten. Auf der Insel wurde ich als Jüngste von sieben Geschwistern geboren. 1946 sind wir dann evakuiert worden, nach Niedersachsen, in die Nähe von Göttingen.

War die Geschichte des Nationalsozialismus in Ihrer Kindheit Thema in der Familie?
Wir haben schon danach gefragt. Mein Vater, der auch Arzt war, ist ziemlich spät aus russischer Kriegsgefangenschaft wiedergekommen. Über den Krieg haben wir aber vor allem mit meiner Mutter gesprochen. Aber wir haben nie so konkret darüber geredet, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich weiß nicht, ob meine Eltern zum Beispiel eine Fahne aus dem Fenster gehängt haben. Und in der Schule, ich war auf einem Mädchengymnasium in Hannover, da haben wir zwar in der Antike rumgewühlt, aber neuzeitliche Geschichte wurde ausgeklammert. Ich habe 1950 mit der Schule begonnen und dieser ganze Lehrerchor war noch ziemlich kaputt von den Kriegserlebnissen. Das war keine schöne Schulzeit.
Haben Sie sich wegen Ihrer deutschen Herkunft Ihrem Mann gegenüber je schuldig gefühlt?
Nein, nie.
Haben Ihre Eltern noch erlebt, wie Sie Leon 1976 geheiratet haben?
Nein, die sind leider beide vorher gestorben. Ich hab nie darüber nachgedacht, ob die beiden unsere Ehe in Zweifel gestellt hätten, weil er jüdisch ist. Aber wir haben ein sehr nettes und schönes Verhältnis zu meiner Familie in Deutschland.
Spielt die jüdische Religion in ihrer Ehe denn überhaupt eine Rolle?
In unserer Ehe eigentlich gar keine. Leon bezeichnet sich als Kosmopolit und trotzdem hat er natürlich seine Traditionen. Ich selbst bin keine Kirchgängerin, bin aber getauft und konfirmiert worden. Leon hat drei Söhne aus seiner ersten Ehe und wir haben eine gemeinsame Tochter. Als Emilia 1977 geboren wurde, standen wie natürlich vor der Frage: Wollen wir sie taufen lassen? Wir haben uns schließlich entschlossen, dass Emilia später selbst entscheiden soll, ob sie das möchte. Als Jugendliche hat sie eine Zeit lang überlegt, sich konfirmieren zu lassen, sich dann aber dagegen entschieden. Mit 17 schließlich entschloss sie sich, dem jüdischen Glauben beizutreten. Mittlerweile ist sie 37 und hat zwei Kinder, die auch in einen jüdischen Kindergarten gehen.

Inwiefern hat Leons Vergangenheit ihr gemeinsames Familienleben geprägt?
Leon hat verhältnismäßig wenig davon gesprochen. Er wollte kein Mitleid erwecken. Er hat erlebt, dass sich Überlebende zu Märtyrern gemacht haben, das war ihm immer zuwider. Nur in gewissen Situationen war es, als ob sich eine Schleuse öffnet, da hat er dann frei und auch viel erzählt von seinen Erlebnissen. Da musste ich sehr aufmerksam sein, weil da viele Dinge kamen, die ihn sehr bedrückt haben, aus der Kindheit und aus dem Ghetto. Wie er im KZ von Mutter und seinen Schwestern an der Rampe getrennt wurde, diese Elternlosigkeit.
Sie haben also erst nach und nach die Geschichte Ihres Mannes kennengelernt?
Ja, ich glaube, man kann das auch nicht einfordern. Ich finde, man kann nicht sagen: Wollen wir uns jetzt mal eine Flasche Wein aufmachen und dann erzähl mal, wie war das eigentlich? Das muss von alleine kommen. Es ist auch jedes Mal sehr anstrengend für Leon, sich anschließend wieder einzufinden. Mittlerweile hat er das Gefühl, dass er seine Geschichte weitergeben muss. Doch das ist auch erst mit der Zeit gekommen. Vor allem, seit seine Geschwister nicht mehr leben. Während seiner Berufszeit war er sehr intensiv mit dem Jetzt beschäftigt.
Welche Erzählung ist bei Ihnen besonders hängengeblieben?
Was mich fasziniert: Die Überlebenden haben keine Hassgefühle. Das meine ich auch, wenn ich immer sage: Ich habe so viel gelernt. Es beginnt mit dem Materiellen, das ist für diese Menschen kein Thema mehr – sie haben so oft alles verloren. Und bei all den Gesprächen mit Überlebenden habe ich nie ein Rachegefühl wahrgenommen.
Leon Weintraub kommt 1926 als Sohn einer jüdischen Familie in Lodz zur Welt. 1939 werden er und seine Familie in das Ghetto Litzmannstadt zwangsumgesiedelt. Im August 1944 folgt die Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Bei der Ankunft im Vernichtungslager wird der damals 17-jährige Weintraub von seiner Mutter Nadja und seiner Tante Eva bei der Selektion getrennt. Die beiden Frauen werden noch am selben Tag vergast. Nach einigen Wochen gelingt Leon Weintraub das Entkommen aus Birkenau, er mischt sich unter eine Gruppe junger Männer; als Arbeitskommando geht es für sie in das Konzentrationslager Groß-Rosen, südlich von Breslau. Für Weintraub ist es der Beginn einer Odyssee: Von Groß-Rosen ins Konzentrationslager Flossenbürg, von dort weiter ins KZ Natzweiler-Struthof. Als die Ostfront im April 1945 immer näher rückt, wird Leon Weintraub zusammen mit anderen Häftlingen von der SS in Richtung Bodensee transportiert. Auf der Zugfahrt gelingt ihm die Flucht, französische Soldaten finden ihn im Wald und befreien ihn. Auch drei seiner vier Schwestern überleben den Holocaust. 1946 beginnt Leon Weintraub ein Medizinstudium in Göttingen und heiratet dort die deutsch-polnische Übersetzerin Katja Hof. Nach dem Studium arbeitet Leon Weintraub als Frauenarzt in Warschau. Ende der 1960er-Jahre erfährt Leon Weintraub erneut Antisemitismus in seiner Heimat Polen, seine Arbeit als Oberarzt wird eingeschränkt. Schließlich wandert Weintraub mit seiner Familie nach Schweden aus. Seine Frau Katja stirbt in Schweden, nur ein knappes Jahr nach ihrer Ankunft. Leon Weintraub lernt in Stockholm seine zweite Frau Evamaria Loose kennen, ebenfalls eine Auswanderin aus Deutschland. Evamaria Loose-Weintraub, 1944 auf Rügen geboren, war nach ihrem Sprach- und Philosophiestudium in verschiedenen europäischen Ländern zum Wirtschaftsstudium nach Schweden gekommen. Evamaria und Leon heiraten 1976, ein Jahr später kommt ihre gemeinsame Tochter Emilia zur Welt, die heute ebenfalls als Ärztin in Stockholm arbeitet.
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