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Für *Freiheitskämpfer

„Janukowitsch haben wir verjagt, den Rest schaffen wir noch“

23. Dezember 2014
Von Rebecca Barth

Trotz der seit mehr als zwei Monaten geltenden Waffenruhe gehen die Kämpfe im Osten der Ukraine weiter. Viele flüchten aus dem Kriegsgebiet in die Hauptstadt Kiew und hoffen, sich dort ein neues Leben aufbauen zu können. Teil 2 der Maidan-Serie

Auf dem Khreshatik-Boulevard in Kiew stehen noch einige Zelte, die an die Massenproteste im Februar 2014 erinnern.

Auf dem Khreshatik-Boulevard in Kiew stehen noch einige Zelte, die an die Massenproteste im Februar 2014 erinnern.

Rebecca schrieb diese Reportage im Rahmen unseres ersten TONIC-Recherchestipendiums. Als Mentoren betreuten Timo Steppat und Ruben Neugebauer den Beitrag. Dies ist der zweite Teil, der dritte und letzte erscheint morgen.

Im Zentrum Kiews trifft Sergej auf Flüchtlinge aus Slowjansk in der Ostukraine. Ein Ehepaar mittleren Alters, das erst vor wenigen Stunden in der Hauptstadt ankam. Jetzt wollen sie sich die Orte angucken, die sie sonst nur aus dem Fernsehen kennen. Die Frau schluchzt, der Mann flucht auf die Separatisten. Er findet, sie haben das Land gespaltet und die Leben vieler zerstört.

Als Sergej bemerkt, dass die beiden aus dem östlichen Teil des Landes kommen, spricht er sie an. „Willkommen in Kiew“, sagt er und schüttelt dem Mann die Hand. Es sei ein gutes Zeichen, dass Leute aus dem Osten nach Kiew flüchten. Die Propaganda habe vielen derart das Hirn gewaschen, dass er sich über jeden freue, der die ganzen Lügen über russenmordende Faschisten nicht glaube. Sergej nimmt die Frau bei der Hand und zieht sie ein Stückchen die Straße runter, erklärt, wie es hier Ende Februar abgelaufen ist, von wo geschossen wurde.

Die Frau beginnt erneut zu weinen, bei Sergej nimmt die Wut auf das Geschehene überhand. Zitternd zündet er sich eine Zigarette an, die er vergisst zu rauchen und in seiner Hand verglimmen lässt. „Jetzt wissen wir, wovor uns der Maidan beschützen wollte“, schluchzt die Frau in Anspielung auf die Separatisten, während Sergej fluchend auf die Einschusslöcher in einer Straßenlaterne deutet. Hier starben zwei Menschen. Einer gerade 21 Jahre alt. „Der Maidan hat unserem Land einen Dienst geleistet. Teuer bezahlt ja, aber notwendig“, sagt die Frau und wischst sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

In Kiew kommen nun jede Woche mehr Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten an. Auch Maryana hilft entfernten Verwandten aus Donezk, die vor den Separatisten und den Gefechten fliehen. „Es gibt keine richtigen Evakuierungsprogramme von der Regierung“, sagt sie. „Wir organisieren das privat.“ Bis zum letzten Moment ist nicht klar, ob es Nastya und ihr Bekannter Stas mitsamt Frau und kleiner Tochter aus der Stadt schaffen. Der Weg mit dem Auto ist zu gefährlich. An den Checkpoints der Separatisten, an denen man zwangsläufig vorbeimuss, werden die Autos der Flüchtenden geplündert oder Leute festgenommen. Nastya wurde verdächtig ein rechter Terrorist zu sein. „Ich stehe auf der sogenannten ‚Rechter Sektor‘- Liste“, erzählt sie. „Weil ich Widerstand geleistet habe“, fügt sie ironisch hinzu und setzt das Wort Widerstand mit den Fingern in Anführungszeichen. Der Regierung der selbsternannten Volksrepublik Donezk missfiel, dass sie die ukrainische Fahne hisste und sich so offen zur Ukraine bekannte.

Nastya und Stas sind nun Flüchtlinge im eigenen Land.

Sie entschieden sich, mit dem Zug zu fliehen. „Die Züge sind völlig überfüllt. Sie kommen komplett leer an und fahren komplett voll Richtung Kiew“, berichtet Nastya. In Kiew kommt sie bei Verwandten unter, genau wie Stas mit seiner kleinen Familie. Sein Geschäft in Donezk musste er aufgeben. „Ein eigenes Unternehmen in Donezk aufzuziehen ist mutig“, sagt Maryana. Kriminalität und Korruption seien besonders im industriellen Osten des Landes sehr hoch. Dies bekam auch Stas zu spüren. „Wir wollten eigentlich nach Australien auswandern“, berichtet er. Unter Janukowitsch habe es keine Zukunft gegeben, schon gar nicht für junge Unternehmer. Der Plan nach Australien auszuwandern war schon fast perfekt. „Wir saßen praktisch auf gepackten Koffern“, grinst er. Doch dann kam der Maidan und mit ihm neue Hoffnung. Die Bewegung weitete sich auf das ganze Land aus. In Donezk versuchte man sie zu unterdrücken. Korrupte Polizisten schlossen sich den Separatisten an, weigerten sich pro-ukrainische Demonstrationen vor Übergriffen durch die von der Regierung angeheuerten Schlägertrupps zu schützen. „Als Janukowitsch dann geflohen ist, haben wir einen Monat gefeiert“, berichtet Stas.

Eine Karikatur über die Beziehung zwischen Janukowitsch und Putin am europäischen Platz in Kiew

Eine Karikatur über die Beziehung zwischen Janukowitsch und Putin am europäischen Platz in Kiew

Das Leben in Kiew ist fast doppelt so teuer wie in Donezk. Eine eigene Wohnung haben Stas und Nastya noch nicht. Eine Arbeit auch nicht. Wie ihre Pläne aussehen? Sie zucken mit den Schultern. „Wir versuchen erst eine eigene Wohnung zu finden, dann einen Job“, sagt Nastya. Ihre Ersparnisse reichen noch bis Herbst. Haben sie bis dahin in Kiew nicht Fuß gefasst, geht die Flucht weiter in Richtung Europa. „Wie ist denn die Situation in Deutschland für Flüchtlinge? Was muss man da machen? Bekommen wir Asyl?“, fragen sie sich. Ihre Heimat wollen sie eigentlich nicht verlassen. Sie hoffen, dass sich das Land weiter verändert. „Der Maidan war lange überfällig“, sagt Nastya. An der Situation im Osten seien Janukowitsch und seine Bande Schuld, genauso wie korrupte Polizisten, „gehirngewaschene Idioten“.

Im Osten der Ukraine sprechen die Leute größtenteils Russisch und konsumieren russische Medien. In diesen war relativ schnell nach Ausbruch der Proteste in Kiew von einem faschistischen Putsch die Rede. Nastya berichtet von einigen Kirchen, die das Gleiche verbreiteten: „Es gibt da von einer Chemiefirma eine Kirche, für die Angestellten besteht Kirchenpflicht. Da hat der Priester schon Ende Dezember von Faschisten in Kiew gesprochen.“

An den Souvenirständen kann man Klopapier mit Janukowitschs Gesicht kaufen.

Nastya und Stas sind nun Flüchtlinge im eigenen Land. In ihrer Heimatstadt tobt ein immer weiter eskalierender Krieg der russischen Separatisten gegen die neu geformte Regierung in Kiew. Ihr Hab und Gut haben sie in wenigen Taschen mit nach Kiew geschafft. Obwohl sie nicht wissen, wie es weitergehen soll, habe sie ihren Optimismus nicht verloren. Das ukrainische Volk habe Janukowitsch verjagt, „den Rest werden wir jetzt auch noch schaffen. Wir werden gewinnen“, sagt Stas überzeugt.

Ein ausgebranntes Auto auf dem Khreshatyk-Boulevard

Ein ausgebranntes Auto auf dem Khreshatyk-Boulevard

Auf der Khreshatyk bestaunt das geflüchtete Ehepaar aus Slowjansk die Überbleibsel der Proteste. An den Souvenirständen kann man Klopapier mit Janukowitschs Gesicht kaufen. Darüber können die Flüchtlinge noch nicht lachen. Der Schock der letzten Tage, die Flucht aus Slowjansk und die neuen Eindrücke aus Kiew sitzen noch zu tief.

Was mit friedlichen Protesten Ende November begann, hat innerhalb nur weniger Monate das ganze Land verändert und Teile davon in eine tiefe Krise gestürzt. Aber es hat auch die Ukrainer verändert. Einige haben ihre Häuser im Krieg verloren, andere bleiben traumatisiert zurück. Viele werden traumatisiert und verstümmelt aus dem Krieg zurückkehren. Trotzdem blicken Maryana, Nastya und Stas optimistisch in die Zukunft.


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