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„Ich warte auf deine Antwort“

16. Dezember 2014
Von Christian Werner und Andrej

Christian arbeitet im November 2013 als Fotograf in Donezk. Nachdem er das Land verlässt, beginnt die Krise – erst in Kiew, dann auf der Krim, schließlich in und um Donezk. Die E-Mails mit seinem Freund Andrej* zeichnen die Chronik eines Krieges, der immer näherkommt.

Dieser Artikel erscheint auch auf dem neuen TONIC Plakat N°2, das drei Texte über den Ukrainekonflikt vereint. Hier könnt ihr es bestellen.

Andrej

Andrej

November 2013: Die ukrainische Regierung um Präsident Viktor Janukowitsch stoppt ein laufendes Assoziierungsabkommen seines Landes mit der EU. Die Entscheidung löst unter Ukrainern heftige Proteste aus. Es ist der Beginn der Maidan-Demonstrationen.

Andrej, 24. November 2013, 17:33 Uhr
Hi Christian!
Heute waren wir auf dem Euromaidan in Donezk. Ich war erstaunt, wie desinteressiert die Leute hier sind. Es waren nicht mehr als 100 da. Schade, dass ich gerade nicht nach Kiew kann. Wenigstens dort gehen die Leute für ihre Meinung auf die Straße.
Bist du noch in Odessa? Gibt es dort auch größere Euromaidan-Proteste?

Christian, 01.12.2013,12:37 Uhr
Hi Andrej,
Mir geht’s gut. Ich bin am Mittwoch nach Deutschland zurückgekehrt.
In Odessa habe ich leider nichts von einem Euromaidan mitbekommen. Keine großen Demos – nichts! Ich denke schon, dass es dort eine Bewegung gibt, allerdings ist sie wahrscheinlich nicht größer als in Donezk. Ich glaube, es gibt auch dort viele Menschen, die enttäuscht sind, nur leider gehen sie nicht demonstrieren.
Ich habe von der Polizeigewalt in Kiew letzte Nacht gehört. Zum Glück haben sich viele Menschen nicht einschüchtern lassen und protestieren weiter.
Leider gibt es bislang anscheinend nur in Kiew größere Proteste. Ich hoffe, dass sie sich von dort aus über das Land verbreiten und die Leute mutiger werden.

Andrej, 15.12.2013, 11:53 Uhr
In Kiew treffen sich weiterhin Leute zu Demos. Trotz der Kälte sind jetzt rund um die Uhr Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz und halten ihn besetzt. Zum Glück gibt es dort jetzt Orte zum Aufwärmen und Feldküchen. Viele Menschen bringen den Demonstranten warme Sachen und Essen. Es ist großartig, zu sehen, wie viel Solidarität diese Menschen zeigen.
Gleichzeitig passiert hier in Donezk nichts von alldem. Einige Leute unterstützen ernsthaft den russischen Kurs und die Regierung, aber das sind nur wenige. Die meisten sind völlig gleichgültig und ich glaube, das ist das Allerschlimmste.
Ich hoffe wirklich, dass die Ukraine ein ganz anderes Land ist, wenn du das nächste Mal zu Besuch kommst.

Andrejs Wohnhaus in Donezk.

Andrejs Wohnhaus in Donezk.

Januar 2014: Eine Verschärfung des Demonstrationsrechts sieht drastische Strafen für die Vermummung auf Versammlungen und das Rufen von „radikalen Parolen“ vor. Das dämpft die Proteste nicht, im Gegenteil. Am 28. Januar erklären Ministerpräsident Mykola Asarow und die gesamte Regierung ihren Rücktritt.

Christian, 16.02.2014, 09:17 Uhr
Lieber Andrej,
Ich verfolge nach wie vor die Nachrichten aus der Ukraine. Nicht nur die aus Kiew. Ich bin zutiefst schockiert, wie in Kiew aus anfänglich friedlichen und hoffnungsvollen Demonstrationen gewaltvolle Proteste mit vielen Verletzten und Toten geworden sind.
Wie ist die Situation in Donezk? Der westlichen Berichterstattung zufolge scheint es überwiegend ruhig zu sein.
Kannst du mir deine persönliche Sicht auf die Dinge sagen? Das wäre sehr wichtig für mich. Ich denke viel über die gesamte Situation nach, habe aber nur meine eigenen Erfahrungen und Eindrücke aus der Ukraine.
Ich hoffe, dass die Situation nicht weiter eskaliert und dass Janukowitsch das einzig Vernünftige tut und sein Amt niederlegt. Allerdings bin ich unsicher, ob sich die Situation maßgeblich verbessert, wenn die jetzigen Oppositionsparteien an die Macht kommen sollten.

Februar 2014: Am 20. Februar schießen Scharfschützen auf Demonstranten in Kiew; 80 Menschen werden getötet. Das Parlament enthebt Präsident Janukowitsch am 22. Februar seines Amtes, woraufhin dieser fluchtartig das Land verlässt. Am 28. Februar nehmen Bewaffnete zwei Flughäfen auf der Halbinsel Krim ein; auf ihren Uniformen sind keine Erkennungszeichen zu finden.

Andrej, 01.03.2014, 22:58 Uhr
Lieber Christian!
Ich muss mich entschuldigen, dass ich nicht früher geantwortet habe.
Die Nachrichtenlage wird immer beunruhigender. Es gibt viele Fehlinformationen, die mit wahren Fakten vermischt sind, und oftmals ist es schwierig, beide voneinander zu unterscheiden. Klar ist, dass es unter den jetzigen Umständen fast unmöglich ist, eine objektive Berichterstattung zu erwarten. Die verschiedenen Sender bewerten die Ereignisse meist gänzlich unterschiedlich und widersprüchlich.
Egal, welche politische Seite gewinnen wird, die normalen Leute werden darunter zu leiden haben. Auf der anderen Seite wurde durch die Flucht von Janukowitsch und seinem Gefolge die Hoffnung bestärkt, dass das erste Mal seit vielen Jahren wirkliche Veränderungen in unserem Land möglich sind.
Die Nachricht von der russischen Militärintervention auf der Krim traf uns wie ein Schlag! Wir sind zutiefst schockiert über die Entwicklungen. Ein Freund von mir hat erzählt, dass seine Familie, die auf der Krim lebt, dazu gezwungen wurde, einen Antrag auf eine russische Staatsbürgerschaft zu stellen. Ihnen wurde angedroht, dass sie sonst ihr Haus verlieren würden, wenn Russland die Regierung der Krim übernimmt.
Vor Kurzem habe ich mit einer alten Frau im Bus diskutiert. Sie sagte, dass unsere neue Regierung aus Faschisten besteht, die die Macht in Kiew an sich gerissen haben und nun versuchen werden, Donezk zu überfallen, und dass wir die Stadt verteidigen müssen. Ich versuchte dagegen zu argumentieren und sagte: „Schau dich um, wie wir hier leben. Schau dir die ganzen kaputten Straßen hier an. Schau dir die ganzen jungen Menschen in den Dörfern und kleinen Städten an, die von einer regulären Arbeit mit einer guten Bezahlung träumen und niemals eine finden werden. Schau deine eigene Rente an, die gerade einmal die Hälfte des Existenzminimums ist. Sieh dir die Fabriken an, die stillliegen und die Krankenhäuser, in denen Menschen ohne Geld auch Notfallbehandlungen verwehrt werden, obwohl die Gesundheitsversorgung laut Gesetz für jeden frei zugänglich und umsonst ist. Ist es das, wofür ihr kämpfen und was ihr gemeinsam mit Menschen verteidigen wollt, die uns unsere Rechte und Geld gestohlen haben?“
Es entstand eine riesige Diskussion und sie veränderte ihren Standpunkt kein bisschen. Hier gibt es viele Leute wie sie, nicht nur ältere Menschen, auch viele junge, die genauso denken. Viele sehen nicht, wie es anders funktionieren kann. Andere haben die Korruption in ihr Leben eingebaut und überleben nur durch sie. Und es gibt jede Menge Menschen, die sich immer noch an die günstigen Lebenskosten zu Sowjetzeiten erinnern und jegliche demokratische Veränderungen ablehnen.
Ich habe Angst, dass es hier in Donezk zu viele solcher Leute gibt, um wirkliche Veränderungen herbeizuführen...

Das Stahlwerk von Donezk

Das Stahlwerk von Donezk

März und April 2014: Am 16. März stimmen – so das offizielle Wahlergebnis – bei einer Volksabstimmung 96,6% der Bevölkerung auf der Krim für eine Angliederung der Halbinsel an Russland. EU und USA erkennen die Abstimmung nicht an. Ende des Monats erhöht Russland seine Militärpräsenz an der Grenze zur Ukraine drastisch. Am 7. April besetzen russlandtreue Aktivisten die Gebietsverwaltung der Stadt Donezk; sie fordern ein Referendum über den Beitritt der Region zu Russland.

Christian, 08.04.2014, 00:08 Uhr
Lieber Andrej!
Ich bin ziemlich schockiert über die Situation und habe mehr Angst denn je vor dem, was kommt. Wird die Ukraine immer mehr zerfallen? Stück für Stück?
Mir fällt die Vorstellung sehr schwer, dass in Donezk noch ein normales, alltägliches Leben möglich ist.

Andrej, 13.04.2014, 00:06 Uhr
Lieber Christian!
Ich begann dir gestern zu schreiben, doch ich wurde nicht fertig. Heute fühlt es sich so an, als müsste ich alles ändern, weil neue Dinge passiert sind und die Lage sich wieder verändert hat.
Als Erstes möchte ich dir sagen, dass das normale Alltagsleben in Donezk weitergeht. Zumindest versuchen die meisten Menschen verzweifelt, es aufrechtzuerhalten. Meistens ist es ruhig in der Stadt, abgesehen von den Gruppen maskierter und bewaffneter Männer, die man ab und zu auf den Straßen sehen kann. Das lokale Rathaus wird jetzt von den Separatisten besetzt gehalten, die bis an die Zähne bewaffnet sind und viele Kriminelle in ihren Reihen haben.
Während die ukrainischen Nachrichten ziemlich konfus sind, handelt es sich bei den meisten russischen um offensichtliche Lügen. Sie haben zum Beispiel einen Mann gezeigt, der sagte, dass er Europäer ist und angeheuert wurde, in die Ukraine zu gehen und mit Waffengewalt für die Interessen von radikalen Nationalisten zu kämpfen. Später wurde der gleiche Mann als ein „ehrlicher Bürger“ gezeigt, der von Nationalisten verprügelt wurde, weil er Russisch sprach!
Das Schlimmste ist: Viele Menschen glauben wirklich, dass Donezk von Faschisten angegriffen wird und dass sie ihre Stadt mit Waffengewalt verteidigen müssen. Ich bin völlig ratlos, wie man diese Leute vom Gegenteil überzeugen kann.
Es gibt viele Menschen, die mit ukrainischen Fahnen auf die Straße gehen würden, um den Frieden und unser Heimatland zu unterstützen. Aber jeder von ihnen versteht, dass unsere Gegner, auch wenn weniger zahlreich, schwer bewaffnet und von Profis militärisch organisiert sind. Sie können jederzeit zu schießen beginnen und eine Massenpanik auslösen, die wiederum eine russische Intervention rechtfertigen könnte.

Christian, 21.04.2014, 00:37 Uhr
Ich folge überwiegend der unterschiedlichen westlichen Berichterstattung. Selbst diese ist zum Teil so widersprüchlich und einseitig, dass ich nicht weiß, was ich glauben soll. Schwer vorstellbar, dass ein ausländischer Journalist die Zusammenhänge wirklich durchschaut.
Es ist total verständlich, aber gleichzeitig tragisch, dass die Menschen nicht auf die Straße gehen können, weil sie Angst haben müssen, dass Schüsse fallen und Blut vergossen und im schlimmsten Fall eine russische Militärintervention provoziert wird.

Mai und Juni 2014: Bei einer Abstimmung am 11. Mai stimmen laut prorussischen Separatisten 89 Prozent der Einwohner Donezks für eine Abspaltung der Region von der Ukraine. Kein Staat außer Russland erkennt das Referendum an. Am 25. Mai finden in der ganzen Ukraine Präsidentschaftswahlen statt, die Petro Poroschenko gewinnt. Im Osten des Landes kommt es zu Kämpfen zwischen der ukrainischen Armee und den Separatisten. Ende Juni handelt der neue Präsident eine Waffenruhe mit den Separatisten aus, die allerdings schon kurz danach verletzt wird. Am 17. Juli trifft eine Rakete das Passagierflugzeug MH17, während es über die Ostukraine fliegt; alle 298 Insassen sterben bei dem Absturz. Anscheinend haben Separatisten das Flugzeug versehentlich abgeschossen.

Andrej 10.08.2014, 23:24 Uhr

Hallo Christian!
Als Erstes möchte ich sagen, dass im Moment alles in Ordnung ist mit mir. Das ist aber leider die einzige positive Nachricht. Ich glaube, du hast die Nachricht erfahren, dass Donezk und Makijiwka seit einigen Wochen von Terroristen besetzt sind. Viele Gebäude in Donezk sind durch Granatenbeschuss zerstört.
Man sieht, wie die Terroristen anschließend die leeren Granathülsen aufsammeln, um keine Spuren zu hinterlassen. Es gibt keine Reporter von ukrainischen Medien hier, nur russische Medien filmen die Bombardements. Danach zeigen sie Bilder von der Zerstörung der Stadt und toten Zivilisten mit dem Kommentar, dass die ukrainische Armee dafür verantwortlich sei!
Aber das Schlimmste ist, dass viele Leute hier nach wie vor nicht das glauben, was sie selbst sehen und erleben, sondern die Horrorgeschichten des russischen Fernsehens für wahr halten. Ich denke, das liegt zum Teil daran, dass man hier keine ukrainischen Sender mehr empfangen kann und die Leute nur noch russische Nachrichten sehen.
Doch inzwischen ändert sich die Meinung der Mehrheit langsam. Viele Menschen, die bislang die Separatisten unterstützten, erkennen jetzt ihre wirklichen Absichten. Ich denke, die Entwicklung ist nicht weniger wichtig als die militärischen Fortschritte der Armee.
Die Menschen hier versuchen, ihr Alltagsleben fortzusetzen. Viele arbeiten nach wie vor. Der Nahverkehr funktioniert noch, genauso wie andere öffentliche Dienste. Menschen reparieren Straßen und Versorgungs- und Stromleitungen, die zerstört wurden.
Das Wichtigste für die Armee ist, die Route zu durchtrennen, auf denen Russland die Terroristen mit Waffen versorgt. Dann werden sie aufgeben und fliehen.
Leider ist die Gefahr einer russischen Invasion nach wie vor allgegenwärtig. Aber wir hoffen, dass der Druck der anderen Staaten das verhindern wird.
Aber in Kramatorsk habe ich gesehen, wie schnell Menschen ihre Stadt wieder aufbauen können und zu einer Art normalem Leben zurückkehren. Dort gab das Orchester des Präsidenten ein Konzert zur Befreiung der Stadt. Ich war da. Es war unbeschreiblich. Ich sah Freudentränen in den Augen der Menschen. Für sie ist der Krieg endlich vorbei und ich wünsche mir, dass es bald hier in Donezk auch so ein Konzert geben wird!

Viele Menschen haben die Stadt verlassen.

Viele Menschen haben die Stadt verlassen.

Christian, 23.08.2014, 01:15 Uhr
Viele meiner anderen Freunde und ihre Familien haben Donezk mittlerweile verlassen. Sie sind nun über den Rest der Ukraine verstreut und in Sicherheit. Für keinen von ihnen war es einfach, ihr Zuhause zu verlassen. Hast auch du schon darüber nachgedacht, aus Donezk zu fliehen?
Schwer vorstellbar, dass es Menschen gibt, die sich enthusiastisch über vorbeifahrende Panzer und das Artilleriefeuer freuen. Aber es ist gut, zu hören, dass mehr Menschen die Ziele der Separatisten verurteilen.
Heute soll der erste Teil des russischen Hilfskonvois Luhansk erreicht haben. Es ist kein Geheimnis, dass die Separatisten von Russland unterstützt werden, auch wenn der Kreml das immer noch dementiert. Die restlichen europäischen Staaten scheinen Russland und der ganzen Situation völlig hilflos gegenüberzustehen.
Es stimmt mich ebenfalls nachdenklich, dass Russland Hilfsgüter in den Osten der Ukraine schickt, die ukrainische Regierung aber scheinbar nichts dergleichen unternimmt.

Andrej, 25.09.2014, 16:27 Uhr
Lieber Christian,
es tut mir sehr leid, dass ich dir nicht früher geschrieben habe. Es waren turbulente Wochen für mich. Mir geht es gut und meiner Familie auch. Wir sind alle in Sicherheit.
In der letzten Woche des Augusts wurde Donezk immer stärker beschossen. Unsere einzigen verbliebenen Nachbarn und wir mussten täglich viele Stunden im Keller zubringen.
Am 28. August packten wir nur die nötigsten Dinge zusammen und fuhren nach Krasnoarmijsk. Die Reise war sehr hart. Freiwillige brachten uns mit ihrem Auto von Krasnoarmijsk nach Slowjansk, weil es dort keinen öffentlichen Nahverkehr mehr gab. Wir waren allein einen Tag unterwegs, bis wir Charkiw spät in der Nacht erreichten. Die Reise dauerte drei Tage. Jetzt bin ich in Kiew.
In Donezk wurde die Bombardierung, nachdem wir die Stadt verlassen hatten, immer heftiger. In unserem Haus sind die Fenster von Explosionen zerstört. Zivilisten sind getötet worden.
Nachdem der „Waffenstillstand“ begann, ging der Beschuss weiter. Am nächsten Tag ist ein Freund von mir nur knapp einem Bombenangriff auf einen Markt in Donezk entkommen. Die Terroristen nehmen immer noch Leute ohne Begründung fest. Einige tauchen wieder auf, manche verschwinden spurlos.
Im Moment ist es in Donezk relativ ruhig und es gibt Strom und Wasser. Aber der Winter ist nah und sehr wahrscheinlich funktioniert das Fernwärmenetz nicht.
Ich warte auf deine Antwort.

* Andrejs richtiger Name ist der Redaktion bekannt.


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