Doppelte Realität
7. Dezember 2014
Von Darya Tsymbalyuk
Im Mai 2013 kam Darya aus den USA zurück in ihre ukrainische Heimat, im September nach Kiew – zwei Monate später begannen die Proteste auf dem Maidan. Nun kämpfen Daryas Vater und ihr Freund in der Ostukraine.
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Bild: Darya Tsymbalyuk/TONIC

Dieses Jahr ist der Herbst in Kiew besonders schön. Kinder spielen im Park, Pärchen treffen sich zum Rendezvous, alte Damen sehnen sich nach ihrer Jugend. Sonnige, friedliche Tage. Wer glaubt, dass etwas weiter östlich zur selben Zeit ein Kind, ein junger Mann, eine alte Dame sterben könnte?
Ich müsste gar nicht so weit schweifen. Nur ein paar Kilometer entfernt, in einem Militärkrankenhaus im Herzen Kiews, liegen Leute in meinem Alter, die keine Arme oder Beine mehr haben. Die Ukraine lebt in einer doppelten Realität.
Ich wurde 1990 geboren – der ukrainische Staat entstand ein Jahr später. Er und ich sind fast gleich alt. Die unabhängige Ukraine hat nie Krieg geführt. Aber die Kriege der Vergangenheit haben immer eine Rolle gespielt: in Geschichten, Filmen, Fotografien. In meiner Kindheit haben wir den Erzählungen aus dem Zweiten Weltkrieg gelauscht, sind auf Raketenabschussrampen und Panzern herumgeklettert und durch alte Gräben gerannt. Trotzdem habe ich mir nie vorstellen können, dass der Krieg zurückkommen könnte. Auch nicht, als ich später mit Freunden aus dem Irak, aus Palästina oder Bosnien geredet habe.
Vor ein paar Monaten entschied sich mein Vater, ein pensionierter Offizier, zurück zur Armee zu gehen. Er schloss sich einem ukrainischen Freiwilligen-Bataillon an. Er erzählt mir nicht viel über diese Einheit. Das Einzige, was ich weiß: dass in der Einheit freiwillige Soldaten aus allen möglichen Berufen kämpfen. Veteranen, Anwälte, Bauarbeiter. Es sind Leute dabei, die viel älter sind als mein Vater – aber auch welche, die noch jünger sind als ich. Mein Vater ruft mich nur selten an. Und wenn er anruft, dann beantwortet er meine Fragen nicht, sondern beteuert nur, dass alles in Ordnung sei.
„Mittlerweile spreche ich nur noch Ukrainisch“
Bald ist ein Jahr vergangen seit der Maidan-Revolution. Damals kam ich von meinem Auslandsstudium zurück und zog nach Kiew. Ich kannte noch niemanden in der Stadt. Für Politik habe ich mich nie interessiert. Am 24. November 2013 bin ich trotzdem zu dieser Kundgebung gegangen. Fortan habe ich jeden Tag auf dem Maidan verbracht. Der Platz wurde für mich ein Zuhause, eine Familie, ein Freund. Er war Kunstatelier, Bücherei und Konzertsaal zugleich. Ort des Gebets, der Hoffnung, des Kummers, der Freiheit.
Als im Frühling der Konflikt im Osten eskalierte, sind die meisten meiner Freunde dorthin gegangen. Auch mein Freund hat sich einem der Freiwilligen-Bataillone angeschlossen. Ich blieb in Kiew.
Ich bin im Süden der Ukraine aufgewachsen – mit Russisch. Mittlerweile spreche ich nur noch Ukrainisch. Meine Mutter ist Russin, studierte russische Literatur und Sprache in Moskau. Genau, wie ihre Mutter es getan hat. Mein Vater wurde in Moskau geboren und aufgezogen. Dort haben sich meine Eltern auch kennengelernt und geheiratet. Meine Großmutter und mein Onkel leben noch heute dort. Als ich klein war, sind wir oft viele Stunden mit dem Auto nach Russland gefahren. Abgesehen von der Sprache und der Stadt, in der wir geboren sind, ist meine Familie ukrainisch. Ukrainer zu sein, hat nichts mit Herkunftsort oder Sprache zu tun.
Der Maidan war schnell zunichtegemacht. Das Blut ist von den Plätzen verschwunden, und auch die Erinnerungen an die Menschen, die mutig genug waren, für ihre Freiheit einzustehen. Bilder, die ich auf Zelte oder Türen gemalt habe, sind zerstört worden. Vielleicht war es für den Maidan an der Zeit zu gehen. Bulldozer richteten den Platz für Militärparaden her.
Es passierte am Unabhängigkeitstag, dem 24. August. In Feierlaune war niemand. Der Krieg wütete weiter. Die Soldaten im Osten verlangten nach Waffen – aber die Waffen, die sie brauchten, wurden auf der Parade in Kiew stolz der Menge präsentiert. Am Telefon erfuhr ich, dass einer meiner besten Maidan-Freunde in der Ostukraine getötet worden war.
„Nächte vor dem Computerbildschirm: Wer hat überlebt?“
Eine Woche später kreisten russische Soldaten und prorussische Terroristen* das Bataillon meines Freundes ein. Er und seine Mitkämpfer waren völlig erschöpft, sie hatten weder Waffen noch Proviant. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko bat um einen Korridor für humanitäre Hilfsgüter. Dieser wurde beschossen, mindestens 300 starben. Manche sagen, dass es bis zu 1.000 Opfer gab. Viele Leichen konnten noch immer nicht geborgen werden, weil russische Terroristen das Gebiet kontrollieren.
Was folgte, war Stille. Stille in den Nachrichten. Stille an den Handys. Panik und Verzweiflung bei Angehörigen, die nicht wussten, ob Väter, Söhne, Ehemänner oder Brüder noch am Leben sind. Ich verbrachte Nächte vor dem Computerbildschirm in der Hoffnung, von irgendjemandem irgendeine Information zu bekommen: Wer hat überlebt?
Ein paar Tage sah ich meinen Freund auf einem russischen Sender. Er war unter einer Gruppe Kriegsgefangener. Seit über drei Monaten ist er nun in der Gewalt russischer Terroristen. Ich versuche alles, um ihn da rauszuholen. Aber es gibt wenig, das ich ausrichten kann.
Dieses Wochenende werde ich im Park spazieren gehen. Ich werde den ganzen Weg herunterlaufen, bis zum See. Und während ich über die Schönheit der Natur nachdenken werde, werde ich nicht vergessen können, dass meine Tage hier nur so ruhig und friedlich sind, weil jemand sein Leben aufs Spiel setzt, damit wir durch den Park gehen können. Ohne Angst vor Bomben. Heute oder morgen. Nicht nur in der Ukraine.
* Was für Darya Terroristen sind, bezeichnen deutsche Medien meist als „prorussische Separatisten“. Russische Nachrichten sprechen dagegen von Opoltschenije (Volksmiliz) oder den Streitkräften von Noworossija (Neurussland). Eine Benennung fällt nicht nur wegen einer Wertung schwer, sondern auch, weil auf den zwei Seiten jeweils viele Gruppen kämpfen.
Übersetzung: Christine Reißing
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