Aber Zucchini, die gehen. Oder? – TONIC extrem: Fünf Tage als Frutarier
18. November 2014
Von Luisa Meyer
Frutarier töten keine Lebewesen. Und sie essen nur Gemüse und Obst, wenn die Pflanze nach der Ernte weiterlebt. Dass das gar nicht so kompliziert ist, hat Luisa in ihrem Selbstversuch herausgefunden. Über Wiesen ist sie aber trotzdem noch gelaufen.
Bild: Luisa Meyer

Für die Reihe „Sachen extrem tun“ bedienen sich verschiedene TONIC-Autor_innen ab sofort des guten alten Genres Selbstversuch, um sich dem wahren Leben ein Stück näher zu bringen. Aber nicht irgendwie, sondern extrem.
„Was kannst du überhaupt noch essen?“ Diese ungläubige Frage stellt mir jeder in den fünf Tagen, die ich als Frutarierin lebe. Der Frutarier ist das Schreckgespenst unter den Ernährungstypen, nahezu ein Mythos. Was essen Frutarier eigentlich wirklich? Warum verzichten sie auf den Rest? Und was erfordert es für Anstrengungen, sich frutarisch zu ernähren? Ich starte einen Selbstversuch. Apple-Mitbegründer Steve Jobs soll sich auch eine Zeitlang frutarisch ernährt haben, dann muss das ja machbar sein. Vielleicht komme erfinde ich ja nebenbei auch ein geniales technisches Gerät. Mit einer angebissenen Möhre als Markenzeichen. Ach nein, Möhren kann ich ja gar nicht essen. Dann lieber eine angebissene Zucchini. Genial.
Sonntag – einen Tag, bevor es losgeht
Kurz vor Ladenschluss flitze ich noch in den Kaiser‘s im Berliner Hauptbahnhof, um mich mit dem Nötigsten einzudecken: Sojamilch, Haferflocken, Studentenfutter für zwischendurch, und natürlich einige Äpfel. Damit sollte ich den ersten Tag überstehen. In den vergangenen Tagen habe ich mich schon bemüht, meine Käse- und Milch-Vorräte zu verbrauchen, damit während meiner Frutarier-Zeit nichts verdirbt.
Außerdem beginne ich, mich im Internet über die Ernährungsweise von Frutariern zu informieren. Wirklich brauchbare Informationen sind rar. Eher stoße ich auf platte Kommentare in Foren wie diesen hier: „Die leben gar nicht, die sind tot, weil die ja deiner Aussage nach NICHTS essen können... Außerdem können Veganer ja schon nix essen, also essen Frutarier noch weniger als nix!“ Das Internet enttäuscht mich, leider finde ich keine Seite, die sich auf frutarische Gerichte spezialisiert hat. Also muss ich wohl jede einzelne Zutat überprüfen.
Zumindest der Verzicht auf Fleisch wird mir nicht schwerfallen: Ich bin seit anderthalb Jahren Vegetarierin. Aber die morgendliche Milch im Müsli und der Käse auf dem Auflauf können mir schon das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Ganz zu schweigen von Kartoffeln-Lauch-Suppe.
Und ein Freund, dem ich von meinem Vorhaben erzähle, fragt argwöhnisch: „Du machst das jetzt aber nicht, um damit abzunehmen, oder?“
Montag
Meine Gedanken drehen vor allem um eines: Essen. Mit Haferflocken-Apfel-Sojamilch-Frühstück starte ich in den Tag.
Frutarier lehnen es grundsätzlich ab, Lebewesen zu töten. Und weil in ihren Augen auch Pflanzen zu den Lebewesen zählen, essen sie nur die Teile der Pflanze, die man ernten kann, ohne dass dabei die gesamte Pflanze „stirbt“. Zucchini und Tomaten kann man von der Pflanze pflücken, der Rest bleibt bestehen. Und ich fälle keinen Baum, um einen Apfel zu essen. Wenn ich eine Möhre oder eine Zuckerrübe aus der Erde ziehe, bleibt dort bloß ein Loch, es kann keine neue Möhre dort wachsen.
Auch Nüsse sind erlaubt, ebenso Hülsenfrüchte wie Bohnen oder Erbsen. Manche Frutarier essen auch Getreide, weil es schon „tot“ ist, wenn es geerntet wird. Tabu sind aber Kartoffeln, Zwiebeln, Salat, Kohl und Kräuter. Und natürlich sämtliche tierischen Produkte. Die weitverbreitete Vorstellung, Frutarier äßen nur Fallobst, ist also ein Gerücht.
Mein_e Kommiliton_in Paul Pawlak, den alle nur unter dem Namen Panther* kennen, ist Frutarier.
Er_sie gibt mir Tipps. „Am Anfang habe ich immer mein Handy rausgeholt und die Anbauarten gegoogelt“, sagt Panther. Er_sie habe die Ernährung immer zu Silvester umgestellt: erst vegetarisch, dann vegan, dann frutarisch. Schrittweise verzichtete er_sie auf Bier, später auf Zigaretten, Zwiebeln und dann auf Inhaltsstoffe wie Zucker. Mittlerweile ernährt er_sie sich seit anderthalb Jahren konsequent frutarisch.
Nachmittags koche ich mir eine Reispfanne mit Gemüse. Reis zählt zur Gattung Getreide und ist daher für mich erlaubt. Ich öffne die Kühlschranktür und krame alles hervor, was mir frutarisch erscheint: Tomaten, Zucchini, Kürbis. In einer dunklen Ecke meines Vorratsschranks finde ich sogar eine Konservendose mit Erbsen. Die sind ja frutarisch, erinnere ich mich. Ich öffne die Dose und will gerade die Erbsen in meine Pfanne zu dem Rest geben, als mein Blick auf die Zutatenliste fällt. Na toll, die Erbsen sind mit Zucker konserviert. Also heute Reispfanne ohne Erbsen. Ich denke mir: Kein Wunder, dass Panther sich immer das gleiche Gericht kocht: Nudeln mit Soße.
Ich folge aber seinem_ihrem Ratschlag und tippe „Pfeffer“ in mein Handy ein. Pfeffer wächst offenbar an Kletterpflanzen, die bis zu zehn Meter hoch werden können. Wenn ich schon auf sämtliche Kräuter als Gewürz verzichten muss, kann ich zumindest mit Pfeffer mein Essen ordentlich würzen.
Dienstag
Vor ein paar Jahren war selbst das Wort „vegan“ für mich noch ein exotischer Fachbegriff, heute finde ich es völlig normal, wenn Menschen sich ohne tierische Produkte ernähren. Laut einer Studie der Universitäten Göttingen und Hohenheim hat sich der Anteil der Vegetarier in Deutschland in den letzten sieben Jahren auf 3,7 Prozent verdoppelt, 11,6 Prozent essen bewusst wenig Fleisch und 0,3 Prozent sind Veganer.
„Der Trend zum weniger Fleisch essen wird wahrscheinlich auch in Zukunft anhalten, da dahinter meinungsprägende Trendgruppen unter den Verbrauchern stehen“, sagt Professor Achim Spiller, der an der Universität Göttingen Lebensmittelmarketing lehrt. Mit den „Trendgruppen“ meint er gut informierte und sozial besser gestellte Kritiker des Fleischkonsums, die dafür sorgen, dass sich die Werte ändern. Glaubt man der Entwicklung, dürfte es in Zukunft mehr Veganer geben und vermutlich auch mehr Menschen, die Veganismus radikalisieren.
Am Abend tippe ich meine ersten Eindrücke in den Computer. Der kennt das Wort Frutarier nicht, ändert es automatisch in „Frustrier“. Gefrustet bin ich tatsächlich ein bisschen davon, dass mich die Ernährung derart einschränkt und ich nichts mehr essen kann, ohne die Zutatenliste zu studieren.
Mittwoch
Wie gut, dass es im alternativen Berlin auch Sojamilch für den Kaffee gibt. Ich bin froh darüber, dass ich etwas Weiteres gefunden habe, das ich neben Wasser und Fruchtsäften trinken kann und schlürfe an einem heißen Kaffee vom Kiosk Nach dem zweiten Schluck merke ich aber, was ich eigentlich in der Hand halte: einen Pappbecher. Mit einem Plastikdeckel. Wenn der Becher nicht aus Recycling-Pappe hergestellt wurde, kann ich davon ausgehen, dass für die Herstellung der Pappe Bäume gefällt wurden. Wenn ich wirklich konsequent wäre, müsste ich also auch Pappe und alles, was aus Holz hergestellt wird, vermeiden. Gar nicht so einfach, wenn allein die Ernährung schon eine Herausforderung ist. Wenn ich jetzt noch darüber nachdenke, wie der Kaffee angebaut wird, ob bei der Ernte Menschen ausgebeutet werden ... Bevor ich den Kaffee also wirklich genießen kann, müsste ich erstmal sichergehen, dass er fair ist und bio, dass für die Sojamilch nicht brasilianischer Regenwald abgeholzt wurde, die Milch umweltfreundlich nach Deutschland transportiert wurde, der Becher aus Altpapier recycelt wurde und das Erdöl für den Deckel von einer Ölplattform kommt, die fossile Rohstoffe nicht gierig ausbeutet.
Panther schafft das.
Erst Vegetarier, dann Veganer, jetzt Frutarier: Panther gibt Luisa Tipps zur frutarischen Ernährung.
Bild: Luisa Meyer

Er_sie überträgt die Ernährungsweise auch auf andere Lebensbereiche, kauft keine unnötigen Holzmöbel. „Ich gehe auch nicht auf eine Wiese und rupfe eine Blume aus“, sagt Panther. Aber wenn es keinen anderen Weg gibt, gehe er_sie auch über eine Wiese – obwohl dabei die Wahrscheinlichkeit größer ist, auf ein Insekt zu treten. Das macht Fußball-Spielen echt schwierig, denke ich. Bei einer Sache macht Panther aber eine Ausnahme: Er_sie kauft sich immer noch Bücher, aus Papier.
Heute gehe ich zum Mittagessen in die Mensa. Ich habe das Glück, dass Deutschlands erste komplett vegetarische und vegane Mensa direkt auf meinem Campus ist. Hier sollte ich doch etwas finden, das ich essen kann. Es ist Polnische Woche, aber auf den Piroggen sind Zwiebeln. Das fällt schonmal raus. Neidisch schiele ich auf die Kartoffeln und das Kohlrabischnitzel auf dem Teller meiner Kommilitonen. Das geht auch nicht. Trockenen Tomatenreis kann ich aber essen. An der Salatbar nehme mir einen Salat mit Paprika und Zucchini. Gedankenverloren schaufle ich mir auch ein bisschen Möhrensalat auf den Teller und bemerke meinen Fehler erst später. Mein schlechtes Gewissen wird stärker, als ich merke, dass die Möhren auch noch mit Zucker gesüßt sind. Ich traue mich aber nicht, die Möhren zurückzulassen. Ein bisschen fühle ich mich so wie vor Kurzem, als ich mir bei einer Veranstaltung aus Versehen das Curry mit Huhn statt dem Gemüsecurry auf meinen Teller getan habe. Weil ich so in ein Gespräch vertieft war, fiel mir das erst auf, als ich schon die Hälfte gegessen hatte.
Jeden Mittwoch gehe ich zu einem kleinen Chor, wie jedes Mal nach dem Singen essen wir zusammen. Es gibt Suppe mit Kartoffelstücken. Ich lehne ab, als mir jemand einen Teller in die Hand drücken will und erkläre, dass ich gerade Frutarierin bin. Plötzlich stehe ich im Mittelpunkt einer heiße Diskussion, was Frutarier essen dürfen und was nicht: „Was ist mit Hefe?“ (Hefe ist aus Mikro-Pilzen und für Frutarier erlaubt) „Warum Getreide, aber keine Kartoffeln?“ Oder noch absurder: „Was wäre, wenn man nur eine Kartoffel isst, die restlichen aber im Boden lässt?“ Mir fällt auf, dass bei Frutariern die Trennlinie zwischen „Was esse ich“ und „Was esse ich nicht“ viel schwieriger zu bestimmen ist als bei Vegetariern und Veganern, schließlich gibt es keine Frutarier-Fibel, die die Dos und Don'ts präzise auflistet.
Donnerstag
Ich brauche mit dem Fahrrad dieselbe Zeit zur U-Bahn wie sonst auch, ich kann keine körperlichen Veränderungen bei mir feststellen. Auch Panther geht es so. Bislang hat er_sie keine Mangelerscheinungen. Letztens war er_sie im Fitnessstudio. Die fünf Kilometer ist Panther in derselben Zeit gelaufen wie vor der Umstellung.
In der Vorlesung kann ich mich genauso gut konzentrieren wie sonst. Demokratietheorien, Vokabeln, Zusammenhänge: Alles geht genauso gut in meinen Kopf wie sonst auch. Kurzum, ich fühle mich fit wie immer.
Zuhause treffe ich meine Mitbewohnerin in der Küche. Sie will sich gerade einen Salat machen und fragt, was ich denn essen könne. „Geht Honig?“, fragt sie. Ich schüttle den Kopf. „Essig und Öl?“ - „Das schon. Aber Salat geht nicht“, sage ich bedauernd. Meine Mitbewohnerin schüttelt verständnislos den Kopf. Dabei hat sie selbst eine lange Zeit vegan gelebt.
Frutarier sind eine Seltenheit. Ich finde keine Statistik, die besagt, wie viele Frutarier es in Deutschland gibt. Und in fast allen Artikeln, die ich im Netz über Frutarier finde, wird derselbe Mann, ein gewisser Bert Rutkowsky zitiert, einem Ingenieur in den Vierzigern, der auf einem Foto mit einem Tisch voller Obst posiert.
Selbst Panther kennt keinen anderen Frutarier.
Freitag
In meinem Kopf schwirren eine Menge Ideen, was ich noch alles kochen könnte. Irgendwas mit Auberginen vielleicht. Ich habe mich ganz gut daran gewöhnt, frutarisch zu leben. Zum Beispiel habe ich jetzt immer einen Apfel oder eine Mandarine dabei, weil die wenigsten Zwischenimbisse unterwegs vom belegten Brötchen bis zur Streuselschnecke frutarisch sind. An den Auslagen von Bäckereien gehe ich mit einem sehnsuchtsvollen Blick vorbei. Und während ich über meinen Unitexten sitze, würde ich nichts lieber essen als eine leckere, süße Schokolade. Trotz Schokoladen- und Kuchenverzicht rutschen meine Hosen noch nicht und ich habe nicht abgenommen.
Fazit: Der Selbsttest hat mein Bewusstsein für Ernährung geschärft. Es tut gut, genau zu wissen, was in den Lebensmitteln enthalten ist, die ich esse. Außerdem glaube ich jetzt nicht mehr, dass es so schwierig ist, seine Ernährung umzustellen. Wer weiß, vielleicht gibt es ja in einigen Jahren ähnlich viele Frutarier wie heute Vegetarier und Veganer? Dann gibt es in der Uni-Mensa täglich ein frutarisches Gericht und es gibt eine neue Art von Schreckgespenstern der Ernährung: zum Beispiel Menschen, die sich nur von Licht ernähren? Oder von Luft und Liebe?
* Panther möchte sich keiner Geschlechterkategorie zuordnen und hat mich darum gebeten, die Stellen, in denen er_sie vorkommt, zu gendern.
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