Leben auf eineinhalb Quadratmetern
12. Juni 2014
Von Fabian Federl
In keiner anderen Stadt ist Wohnraum so teuer wie in Hongkong. Die Regierung billigt die künstlich hoch gehaltenen Immobilienpreise. Das zwingt immer mehr Menschen in provisorischen Behausungen zu leben: auf Hausdächern, in Wohnkäfigen oder winzigen Verschlägen.
Der Fotograf Kai Löffelbein sammelte Eindrücke vom Hongkonger Wohnungsmarkt und dessen Opfern. In Kooperation mit LFI produzierte er ein Multimediastück, das unser Partner emerge seit Kurzem präsentiert. Seht es besser auf deren Seite an, denn dort steht es schön groß und nicht so klein und kümmerlich wie über diesem Absatz.
Eineinhalb Quadratmeter sind nicht viel: Eine Dreier-Sitzreihe im Flugzeug misst etwa so viel. Oder das Warenband an der Kasse eines City-Supermarkts. Eineinhalb Quadratmeter Fläche hat aber auch die Unterkunft von Fatso, einem der Protagonisten des Hongkonger Films Cageman. Das Drama porträtiert das Leben der “Käfigmenschen” von Hongkong – einer Stadt, die sich dafür rühmt die meisten Milliardäre Asiens zu beheimaten.
Fatsos Kampf gegen einen geldgierigen Vermieter und die heuchlerische Regierung der damals noch britischen Kronkolonie ist fiktiv, die Lebensrealität der Käfigmenschen nicht: 1,7 Millionen Menschen leben in Hongkong unterhalb der Armutsgrenze, sagt Sze Lai Shan von der Society of Community Organization (SoCo), einem Verein für die Betreuung von Hongkongs armer Bevölkerung. Rund 130.000 davon leben in Käfigen und Holzverschlägen.
In schwülen, schummerig beleuchteten Etagen von Hongkongs Altbauten stehen Käfige übereinander gestapelt, mehrheitlich alte Männer teilen sich hier die Schlafräume, Toiletten und die Küche – soweit es überhaupt eine gibt. Die Bewohner sind keine Obdachlosen oder Drogensüchtige; es sind die sogenannten working poor, die hier leben: Tagelöhner und Bauarbeiter, Straßenhändler und Reinigungskräfte. Oft auch Familien mit Kindern oder Menschen mit Behinderung. In der Bevölkerung von Hongkong nennt man die Bewohner dieser Etagen “Cage Dogs", die Regierung listet die Käfige als “private bedspace apartments”: Ein zynischer Euphemismus, der das Versagen der Wohnraumpolitik zu übertünchen versucht.
Gesundheitlich ist die Wohnsituation katastrophal: Krankheiten verbreiten sich schnell zwischen den eng aufeinander wohnenden Menschen. Ungeziefer vermehrt sich im schwül-heißen Hongkonger Sommer rasant. Auch die Sicherheitslage in den Etagen ist schlecht: Kurzschlüsse in den maroden Leitungen entfachen immer wieder Brände, häufig gibt es Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn. Morgens, wenn Bewohner ihre Wohnkäfige verlassen, schließen sie ihre Habseligkeiten ein – auch wo wenig zu holen ist, wird geklaut.
Lange Zeit galt in Hongkong die Verordnung, erst ab neun Stockwerken Aufzüge in Hochhäuser bauen zu müssen. Daher findet man heute diese Käfig-Batterien oft in den obersten Etagen von achtstöckigen Gebäuden: Für die älteren Bewohner oft ein Hindernis. Ab zwölf Käfigen muss der Vermieter die Etage als “bedspace apartment” anmelden, bestimmte Sicherheitsvorschriften müssen dann eingehalten werden. Ein Grund, warum in vielen dieser Etagen genau elf Käfige stehen. Für die Bewohner solcher unangemeldeten Räume bedeutet das ein erhöhtes Risiko; wie viele es davon gibt, ist aufgrund des unklaren Status schwer erfassbar.
Käfige mit Quadratmeterpreisen von Luxusimmobilien
Eineinhalb Quadratmeter Käfig kosten durchschnittlich 1500 HK-Dollar im Monat, rund 140 Euro. Auf den Quadratmeter herunter gerechnet ist die Miete also zehnmal höher als die einer durchschnittlichen 2-Zimmer-Wohnung in Berlin-Mitte, 3 mal höher als der Quadratmeterpreis einer Einzimmerwohnung in New York und ein Fünftel höher als bei einem 4-Zimmer Luxusapartment mit Meerblick, nur wenige Kilometer Luftlinie von den Käfig-Etagen entfernt, in Hongkongs Edel-Apartmentblock Three Bays.
Die meisten können die Miete mit ihrer mageren Sozialhilfe von rund 130 HK-Dollar im Monat nicht zahlen. Auch zusammengenommen mit den Einkommen aus den verschiedensten Jobs, denen die Bewohner nachgehen, geben sie durchschnittlich 40 Prozent ihres Einkommens für die Miete aus. Die Preise sind in den letzten Jahren weiter gestiegen. 2004 kostete der Quadratmeter in den Holzverschlägen noch rund 40 HK-Dollar, die weltweite Finanzkrise katapultierte den Mietpreis Anfang 2009 auf rund 70 HK-Dollar. Seit 2012 hat sich der Preis auf den heutigen Stand nahezu verdoppelt.
Das führt dazu, dass sich Hongkongs wachsende Masse an working poor ihren Wohnraum immer wieder neu erfinden muss: Mini-Apartments, die für eine Person gedacht sind, werden in Parzellen unterteilt und als Schuhkarton-Wohnungen vermietet – auch “Särge” genannt. Auch hier sind die Preise höher als im Stadtdurchschnitt.
Andere, die sich nicht einmal diese Art des Wohnens leisten können, haben in illegalen Siedlungen über den Dächern der Stadt eine Bleibe gefunden: Auf den Flachdächern einiger Hochhäuser tauchen immer wieder kleine Unterkünfte auf. Manchmal provisorische Behausungen, planenverhangene Bretterbuden oder Zelte. Manchmal aber angelegte Besetzer-Siedlungen, die einem kleinen Dorf ähneln.
Die Stadtverwaltung kennt diese Siedlungen, bestreitet das aber offiziell. Zu übersehen sind sie nicht. “Die Regierung weiß nicht viel darüber und will auch nichts davon wissen, sonst müssten sie sich um die Umsiedlung der Besetzer kümmern”, sagt die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan von SoCo. “Sie wollen keine Obdachlosen, also lassen sie sie dort bleiben." Es gebe so viele von diesen Siedlungen, dass die Regierung sie sowieso nicht zählen könne. Ein Sprecher des Baudezernats Hongkong sagt, dass es keine Daten zu Wohnstrukturen auf Hausdächern gibt.
Der unfairste Wohnungsmarkt der Welt
Wie kann eine Stadt in so einem Maße in der Wohnpolitik versagen, zumal eine so wohlhabende Stadt wie Hongkong?
Ein Grund sind Hongkongs restriktiven Richtlinien zur Landvergabe. Nur sieben Prozent der Stadtfläche sind als Wohnraum deklariert. Das sind nur 77 Quadratkilometer bei sieben Millionen Einwohnern. Die Bevölkerungsdichte liegt offiziell bei 6.396 Einwohner pro Quadratkilometer. Das macht Hongkong zum am dichtesten besiedelten Gebiet der Welt nach Monaco. Angesichts der niedrigen Wohnraumquote fühlt sich die Stadt aber noch viel enger an.
Die britische Wochenzeitung The Economist hat Hongkong zur Stadt mit dem unfairsten Wohnungsmarkt der Welt gekürt. Unfairness berechnen die Wirtschaftsjournalisten aus dem langfristigen Vergleich von Einkommen und Quadratmeterpreisen.
Nachfrage und Angebot sind angesichts der fehlenden Bereitstellung von Baufläche durcheinander geraten: Die, die sich das teure Land leisten können, wenn es denn einmal angeboten wird, bestimmen danach die Mietpreise und haben zu wenig Konkurrenz, als dass sich eine Preisinflation verhindern ließe. Der fehlende Wettbewerb um attraktivere Angebote und die unverhältnismäßige Nachfrage paart sich mit dem Unvermögen der Regierung, mildernde Wohnpolitik zu betreiben: In Hongkong – dem asiatischen Leuchtfeuer angloamerikanischer Markwirtschaft – funktioniert die Markwirtschaft nicht mehr.
Unter dem Preisdruck und der restriktiven Landvergabe leidet besonders Hongkongs öffentlich subventioniertes Wohnen. Die Stadt hat eine der höchsten “public housing”-Quoten der Welt: Rund 47 Prozent der Stadtbevölkerung lebt in regierungsfinanzierten Wohnungen.
Das Sozialwohnungsprogramm wurde als Reaktion auf den großen Ansturm von Gastarbeitern aus dem kulturrevolutionären China der 1950er Jahre gegründet. Zur selben Zeit lockte Hongkongs beginnendes Wirtschaftswunder Glückssucher aus ganz Asien an. Die zunehmende Ghettoisierung machte der Stadt zu schaffen: Die Auswirkungen der unzureichenden Lebensbedingungen in der überfüllten Stadt gipfelten 1953 in einem Großbrand, bei dem 53.000 Menschen obdachlos wurden. Das Sozialwohnungsprogramm linderte die Massenobdachlosigkeit, war jedoch seit jeher unzureichend. Innerhalb von zehn Jahren stieg die Einwohnerzahl der britischen Kolonie um eine Million Einwohner.
Seit 25 Jahren unverändert
Bis heute hat Hongkong sein Programm nicht soweit ausgebaut, als dass es auch nur annähernd den Bedürfnissen seiner Bürger entspricht: Fast 200.000 Menschen warten auf eine Sozialwohnung, es kann Jahre dauern, bis man eine Wohnung zugeteilt bekommt. In den letzten Jahren wurden die Kriterien weiter verschärft: “Bedürftige müssen sieben Jahre in Hongkong leben, um für sich für subventioniertes Wohnen überhaupt zu bewerben,” sagt Ho Wai Chi, Leiter von Oxfam Hongkong. Die Zahl der Neubauten von Sozialwohnungen sinkt seit den 1990er Jahren stetig.
“Seit 25 Jahren hat sich nichts an der Situation geändert”, sagt die Sozialarbeiterin Sze Lai Shan. Die Hoffnung, dass sich etwas tun könnte, schwindet: Die Regierung hat ein Monopol auf Land in der Stadt und lässt sich die künstliche Verknappung des Angebots teuer bezahlen. Dass diese Unternehmen dann keine günstigen Wohnungen bauen, steht im Selbstverständnis der Regierung außerhalb ihres Einflusses.
Indes warten Tausende Stadtbewohner in Käfigen und Verschlägen, auf Hausdächern und unter Planen darauf, dass sie eine der begehrten Sozialwohnungen ergattern. In Hongkong – der Stadt mit mehr Louis-Vuitton-Boutiquen als Paris.
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