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Für *Ringgeister

Im Hamsterrad der Berliner Ringbahn

18. Juni 2014
Von Theodor Schaarschmidt

Die Ringbahn umkreist Berlin im Stundentakt. Tag und Nacht, beinahe ohne Unterbrechung. Unser Autor ist zugestiegen und hat einen kompletten Tag in der Linie S41 verbracht. Der Mikrokosmos Ringbahn im Protokoll.

Theo in der Linie S41: „Ich verliere das Gefühl für Zeit und Position. Stunde für Stunde immer wieder das Gleiche. S-Bahn-Koller macht sich breit.“

Theo in der Linie S41: „Ich verliere das Gefühl für Zeit und Position. Stunde für Stunde immer wieder das Gleiche. S-Bahn-Koller macht sich breit.“

Seit ich in Berlin wohne, übt die Ringbahn eine eigenartige Faszination auf mich aus. Unsere Beziehung ist kompliziert: Wir sind vereint in einer Vernunftehe, es war keine Liebesheirat. An normalen Arbeitstagen verbringe ich zwei Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln.

Die Gleise der Berliner Ringbahn markieren die Grenze zwischen Stadtinnerem und Randbezirken. Wie ein riesiges Ziffernblatt liegt der Ring über Berlin. Eine vollständige Kreisfahrt dauert eine Stunde, auf die Minute genau. Die Züge der Linie S41 und S42 haben keine Endhaltestelle. Sie fahren schlichtweg „nach Ring“, wie es die automatische Durchsage an den Bahnhöfen ausdrückt.

Ich möchte herausfinden, was passiert, wenn ich das S-Bahn-Fahren, sonst ein Teil meines Alltagslebens, bis zum Exzess überdehne. Wenn ich im Kreis fahre, die immer gleiche Route im Stundentakt. Mein Ziel ist es, die Ringbahn endlich richtig kennenzulernen, von Mitternacht bis Mitternacht. Ich möchte die ewige Wiederkehr kosten, zumindest einen Tag lang.

0:00 Uhr
Ich stehe an der Haltestelle Messe Nord/ICC, seit wenigen Sekunden ist Freitag. Für die nächsten 24 Stunden ist „der Ring“ mein Zuhause.

Als Ausrüstung in meinem Rucksack: Schreibblock, Wasserflasche, ein Stapel Romane gegen die Langeweile, ein Kissen für die Nacht, zwölf Mohrrüben als Proviant.
Quietschend hält die Bahn, die Türen öffnen sich. Ich steige in ein. Mein Selbstversuch kann beginnen.

1:30 Uhr
An der Tür steht eine kleine Gruppe betrunkener Jugendlicher. Gestern war Vatertag. Sie haben Mühe, sich auf den Beinen zu halten, gesprochen wird kaum. Einer von ihnen schläft im Stehen ein. Seine Kumpels stützen ihn, damit er nicht umfällt. Klebrige Pfützen auf dem Boden. Leere Weinflaschen rollen durch den Waggon.

An der Haltestelle Ostkreuz kommt die Durchsage: „Diese Bahn endet hier, bitte alle aussteigen!“ Kein Schienenverkehr mehr bis vier Uhr. Ich verlasse den Waggon. Einige Fahrgäste hängen immer noch in ihren Sitzen. Sicherheitskräfte laufen durch den Zug, rütteln die Schlafenden wach und zerren sie nach draußen.

Im S-Bahnhof herrscht noch reger Betrieb: Reinigungskräfte sammeln den Müll vom Vortag mit Greifzangen auf, zwei Männer vom Sicherheitsdienst streiten mit einem Obdachlosen. Eine Handvoll Partygäste in selbstgebastelten Raumanzügen zieht einen blinkenden Papproboter hinter sich her. Mehrere Polizisten sind damit beschäftigt, die Raumfahrer aus dem Bahnhofsgelände zu geleiten.

1:45 Uhr
Ich beschließe, die freie Zeit für einen Spaziergang zu nutzen: Immer den Schienen entlang, bis die Bahn wieder fährt. Mein Plan scheitert grandios: Eine Stunde laufe ich in die verkehrte Richtung, ohne es zu merken. Mein schlaftrunkenes Hirn schickt mich immer wieder auf den falschen Weg. Es ist eiskalt, ich hätte mich wärmer anziehen sollen.

Eine weitere Stunde lang laufe ich schlotternd und planlos durch die Gegend. Allmählich beginne ich, meinen nächtlichen Spaziergang zu verfluchen. Zwischendurch ist mir so kalt, dass ich bei einem Freund klingle, der in der Gegend wohnt. Ich will mich nur ein wenig aufwärmen. Er macht nicht auf, vermutlich schläft er schon längst. Müde tapse ich weiter.

4:00 Uhr
Schlussendlich lande ich genau da, wo ich meinen Spaziergang begonnen hatte: Am S-Bahnhof Ostkreuz. Ich gönne mir eine heiße Gemüsebrühe aus dem Automaten. Sie ist wässrig und versalzen, aber immerhin wärmt sie mich ein wenig auf. Ich steige in die erste S-Bahn, packe mein Kopfkissen aus und schlafe augenblicklich ein.

Drei Runden lang verbringe ich auf meinem Kissen. Immer wieder wechsle ich meine Schlafposition, weil irgendein Körperteil taub wird. Wilde S-Bahn-Träume wie dieser: Ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes tippt mich an und brüllt, ich solle sofort die Bahn verlassen. Schlafen sei nämlich streng verboten. Ich versuche, seinen Weisungen Folge zu leisten, doch es gelingt mir nicht. Meine Beine geben nach, ich taumle unkontrolliert durch den Bahnwaggon. Die anderen Fahrgäste drehen sich beiseite, peinlich berührt von meinem Anblick.

7:00 Uhr
Eine Durchsage reißt mich aus meinen Träumen, diesmal ist sie echt: „Wegen der Rettung einer, äh, suizidgefährdenden Person verzögert sich die Weiterfahrt um unbestimmte Zeit. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Langsam werde ich wach, fühle mich zerknittert und klebrig. Eine Dusche wäre nicht übel. Missmutig vertilge ich meinen Mohrrübenvorrat.

12:00 Uhr
Der Streckenverlauf der Berliner Ringbahn gleicht einem wackeligen Oval, wie von einem Betrunkenen gezeichnet. Die Schienen ziehen sich im Norden quer durch den Wedding, im Osten mäandern sie dann durch die Stadtteile Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Der südliche Ringabschnitt ist der Schönste, hier führt die Route direkt an den scheinbar endlosen Grünflächen des Tempelhofer Felds vorbei. Schlussendlich sehe ich im Westen wieder die Betonbunker des stillgelegten Messezentrums ICC. Wieder einmal bin ich am Ausgangspunkt meiner Reise angelangt.

So eindrucksvoll die nächtliche Fahrt war, so belanglos und ereignisarm ist sie tagsüber. In der Hauptverkehrszeit fährt die Bahn im Fünf-Minuten-Takt, 400.000 Personen nutzen an jedem Werktag die Berliner Ringbahn. Ein paar Tausend von ihnen habe ich heute sicher schon ein- und aussteigen sehen. Sie starren auf Displays, diskutieren über Altersvorsorge, schauen aus dem Fenster, rascheln mit Papier oder sitzen einfach nur apathisch da.

Hin und wieder wechsle ich den Waggon, doch anderswo ist es auch nicht interessanter. Ich verliere die Lust an den ausufernden Beobachtungen, lieber will ich ein wenig lesen. Ich vertiefe mich in den Roman Justine vom Marquis de Sade. Für ein paar Stunden vergesse ich das S-Bahn-Gewusel um mich herum.

16:00 Uhr
Einige Runden später kommt Fotografin Luka vorbei. Sie schießt ein paar Bilder für eben diese Geschichte und muntert mich mit ein wenig schwarzem Tee auf. Ansonsten weiterhin keine besonderen Vorkommnisse. Meine Kreisfahrt wird allmählich zur Geduldsprobe. Da rast das Tempelhofer Feld an mir vorbei, und hier schon wieder der „Molecule Man“, eine dreißig Meter hohe Metallskulptur mitten in der Spree. Kam die nicht gerade schon? Nein, das muss vor einer Stunde gewesen sein. Ich verliere das Gefühl für Zeit und Position. Auf gewöhnlichen Reisen steuere ich wenigstens ein Ziel an. In der Ringbahn hingegen erwartet mich Stunde für Stunde immer wieder das Gleiche. S-Bahn-Koller macht sich breit. Es gibt kein Happy-End im Hamsterrad.

17:30 Uhr
Die S-Bahn wird plötzlich sehr voll, viele sind auf dem Heimweg von ihrer Arbeit. Es wird stickig. Ein Junge, vielleicht um die sieben, mischt den S-Bahn-Waggon auf. „Mein Papi kann LKWs hochheben und Fensterscheiben einschlagen!“, erzählt mir der Junge begeistert und reißt die Hände in die Höhe. Dann hüpft er quer durch den Gang, kullert über den Boden und versucht, seinen Vater zu einem gemeinsamen Boxkampf zu überreden. Dieser dreht sich seufzend beiseite und fängt spontan ein Gespräch mit seinem Sitznachbarn an:

„Na, auch Kinder?“
„Hmm, zwei. Aber meene Alte hat sich schon vor ’n paar Jahren getrennt…“
„Bei mir auch so.“
„Und, hast du die Alte gesehen, die letzte Station raus ist?“
„Ja. Und?“
„Habe ich mir vor zwei Wochen erst angeschafft.“
„Nicht übel!“
„Joahr, nicht übel.“

19:00 Uhr
Ein Mann steigt zu: Stämmig, grimmiger Blick, ausgebeulte Jacke, er setzt sich nicht hin – für geübte Schwarzfahrer sind das Hinweise genug, um Alarm zu schlagen: Das ist ein Kontrolleur. Zwei Teenager bemerken die Gefahr und schlüpfen aus der Bahn, gerade noch rechtzeitig. Der Kontrolleur will ebenfalls die Bahn verlassen, doch da schließen sich schon die Türen – die Jugendlichen sind ihm entwischt. Wütend macht er sich daran, die übrigen Fahrgäste zu kontrollieren. Ich zeige ihm brav mein Semesterticket. Neben mir sitzt ein Touristenpärchen aus Russland, das ihm auf gebrochenem Deutsch erklärt, der Fahrkartenautomat sei kaputt gewesen. Einen Ausweis hat keiner der beiden dabei. Der Kontrolleur brüllt: „Beide mit aussteigen! Ich rufe jetzt die Bundespolizei!“ An der nächsten Haltestelle verlässt er die Bahn, die zwei Touristen folgen verdutzt.

Meistens ist die Atmosphäre in der S-Bahn friedlich bis gleichgültig. In seltenen Momenten kommt es allerdings vor, dass die Stimmung unvermittelt ins Feindselige kippt. Aus einem nichtigen Anlass heraus giften sich die Fahrgäste plötzlich an und überhäufen sich wechselseitig mit Gemeinheiten.

Ein greiser Mann betritt den Waggon, er läuft durch die Bahn und bittet um ein wenig Kleingeld oder etwas zu Essen. Niemand gibt ihm etwas, viele schauen angestrengt auf den Boden. Es riecht nach Kot. Eine Gruppe Kinder hält sich demonstrativ die Nase zu. Daraufhin beginnt eine Frau vom Nachbarsitz die Kinder lautstark zurechtzuweisen. Das wiederum bekommt der Vater der Kinder mit, der seinerseits die Frau anblafft. Und so weiter.

Gerade rechtzeitig unterbricht die S-Bahn ihre Fahrt, alle müssen aussteigen. Auch eine Ringbahn fährt nicht ewig. Ab jetzt verkehrt sie nur noch im Zehn-Minuten-Takt. Züge, die nicht mehr gebraucht werden, fahren in die Betriebsbahnhöfe. Ich genehmige mir eine Streuselschnecke und warte auf den nächsten Zug.

22:00 Uhr
Jenseits von gelangweilten Journalisten gibt es noch mindestens zwei weitere Personengruppen, die Ringbahnfahren in exzessiver Form betreiben. Die einen sind die Lokführer. „Wie lang eine Schicht geht, hängt von vielen Faktoren ab. Sie kann aber durchaus bis zu zehn Stunden andauern“, erklärt mir ein Sprecher der S-Bahn auf Nachfrage. Die Ringbahn-Schichten seien bei manchen Lokführern äußerst beliebt, auch wegen der „landschaftlichen Schönheit der Strecke“.

Die zweite Personengruppe sind Partywütige. Gerade unter Jugendlichen ist es beliebt, mit ein paar Kästen Bier und einer mobilen Soundanlage in die Bahn zu steigen und dann im Kreis zu fahren – zumindest so lang, bis Sicherheitsdienst oder Polizei auf die Fete aufmerksam werden. Vor vier Jahren artete eine Ringbahnparty aus: Feuerwerk, herausgerissene Türmotoren, fliegende Flaschen. Es kam zu Ermittlungen wegen schweren Landfriedensbruchs und Festnahmen.

So ausschweifend müsste es ja überhaupt nicht zugehen – aber ein bisschen mehr Action würde ich mir im Moment schon wünschen. Ich wechsle die Waggons und suche nach Anzeichen auf Ringbahnbesäufnisse, in die ich mich einschleusen könnte. Ohne Erfolg. Meine Mitreisenden ziehen es offenbar vor, außerhalb der S-Bahn zu feiern.

23:40 Uhr
Ein Obdachloser, kaum älter als zwanzig, bittet mit kratziger Stimme um ein wenig Kleingeld. Er erklärt mir, dass ein betrunkener Typ Sangria über seine Obdachlosen-Zeitungen gekippt habe. Alles futsch. Und er braucht noch einen Euro achtzig, um sich am nächsten Morgen wieder neue Zeitungen kaufen zu können. Ich gebe ihm die restlichen Münzen, die ich in meiner Hosentasche finde.

Einige Stationen später verlasse ich den Ring und mache mich auf den Heimweg, zu Fuß. Es tut gut, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Endlich atme ich wieder Frischluft. Mein Hirn fühlt sich matschig an, ich habe einen leichten Drehwurm.

21 Runden Ringbahn liegen hinter mir, das sind 777 Kilometer Bahnstrecke. Über sechshundert Mal habe ich in den letzten 24 Stunden Haltestellen passiert, über sechshundert Mal das ruppige „Zurückbleiben, bitte!“ beim Schließen der Türen gehört. Dreiundzwanzig Mal wurde ich um Kleingeld gebeten, zwei Mal musste ich meine Fahrkarte vorzeigen.

Eine kleine Prise ewige Wiederkehr habe ich gekostet. Sie schmeckt bitter. Ich bin erleichtert, dass der Tag vorbei ist. Endlich kann ich schlafen, in einem richtigen Bett. Träumend drehe ich mich noch ein paar weitere Runden im Kreis.


Kommentare

ErmiAm 22. Juni 2014

Sehr schöner Artikel, hat Spaß gemacht ihn zu lesen!

GastAm 2. Juli 2014

Warum tut man sich das freiwillig an?

gast2Am 26. November 2014

das wirkt eigentlich eher unfreiwillig - der autor zumindest angeödet und gekränkt..

Gast3Am 4. August 2015

Da ist sehr viel Erlogenes bei. Sicher kein authentischer Bericht. Der Artikel ist sehr selbstverliebt geschrieben und ich denke, dass sich der Autor bzw. "gelangweilige Journalist" Hobbies suchen sollte. Einen Drehwurm hatte er sicher auch nicht. Pfui.