Sinnsuche im Hamburger Rausch
18. September 2013
Von Fabian Stark
Chris Nolde lässt in seinem Debütroman „Riss“ drei junge Menschen aufeinander treffen, denen der Sinn des Lebens abhandengekommen ist, wenn nicht immer verborgen war. Sie suchen ihn gemeinsam auf Hamburgs Straßen, im Ausflippen, Trinken und Lieben. Bis zum Schuss.

Der Weg dreier Ausreißer kreuzt sich am Hamburger Hauptbahnhof: Jan, ein verkopfter Poet mit gebrochener Liebe auf den Schultern, Flo, ein ehrlicher, dauer-alkohololisierter Draufgänger, und Maja, eine Borderlinerin mit Faible für Jack Kerouac. Ihre Seelen scheinen platter gestrickt zu sein als die meines nach Red Bull dürstenden Friseurs, doch alle meinen, ihr Leben sei durch einen 'Riss' entzweit, auch wenn sie nicht wissen, wo – Kindheitstrauma? Haben sie alle, doch das allein klärt wenig.
Jan schlägt vor: „Gib mir ein wenig Zeit, Flo, Gib mir drei Tage, und in dieser Zeit nehmen wir uns alle Freiheit der Welt und stellen damit an, was uns einfällt. Wir reisen durch diese Stadt, brechen alle Regeln, wir trinken und feiern und schlafen und essen, wo und wie wir wollen.“
Vieles geschieht, aber wenig passiert
Darum geht es also: Ein Wochenende Hamburg auf der Suche nach Leben. Ein bisschen tanzen, ein bisschen lieben, ein bisschen trinken, kiffen, vögeln, ein bisschen Hecken springen, ins Meer tauchen und Gemüter aufwühlen. Merkwürdig nur, dass der „existenzialistische Drei-Tages-Trip“ (Klappentext) letztlich gar nicht so existenzialistisch ist, sondern bieder wie alle unsere Trink-Tanz-Bums-Wochenenden. Wir hopsen stundenlang in einem feuchten Keller oder einer ehemaligen Fabrik herum und hoffen, dass wir dabei was erleben, uns selbst näher kommen oder aus uns rauskommen, nun mal wild sein dürfen oder sonst irgendetwas. Das ist natürlich Quatsch, und wir wissen das auch. Wir machen viel, haben Spaß, aber es passiert wenig. Nun fragt man sich, warum es Jan, Flo und Maja nicht raffen und den Leser auf knapp 200 Seiten auf ihre verzweifelte Suche mitnehmen, auf der sie sich natürlich verirren und der Essenz ihres Lebens keinen Schritt weiter kommen – bis zum Ende, wo in die Banalität des müde weggerotzten Alltags ein Schuss fällt und der Roman doch noch eine schaudernde Tiefe erhält.
Schöne Szenen gibt es vorher auch schon. Und aneinandergereiht lesen sie sich wie ein Film von Feier- und Anarchie-Anekdoten. Etwa wie die Schwarzfahrer Flo und Jan eine Bahnumfrage machen und dabei die Passagiere, die nun Handzeichen geben sollen, erheitern und verärgern. Von „Wer von euch bevorzugt es, dass der Mann die Rechnung bezahlt?“ geht es hin zu „Und wer von euch traut sich, seinen Kindern zu erzählen, dass die Ehe ein heiliger Bund fürs Leben ist?“. Das Schweigen im Abteil spricht Bände.
Untiefen im philosophischen Fahrwasser
Teils komisch, teils schmerzvoll sind die Stilsprünge des Debüt-Romanciers Chris Nolde. Mal
– halb pädagogisch, halb verzweifelt: „Habt ihr mal über diesen Begriff nachgedacht, sich ausleben? Schrecklich! Ich will mich nicht ausleben. Ich will mich einleben, in etwas hineinleben, leben!“
– literarisch verschnörkelt: „Jan schaut auf ihren Mund, eine rosa glänzende Fläche, und ihre Lippen erschaffen ganze Länder, die er mit Sehnsüchten bevölkert.“
– konventionell: „Ich könnte dir die gesamte Converse-Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts herunterrasseln, um dir zu beweisen, dass du kein Punk mehr sein musst, um Chucks zu tragen.“
– flapsig-sarkastisch: „Caramell-Schoko-flavoured-Extraschaum-Latte-Macchiato“
– oder auch küchenphilosophisch: „Es ist die Pragmatik des Normalen, die mich immer gestört hat. Wenn nichts von deinem Weg abführen kann, hat nichts wirklich eine Bedeutung.“
Chris Nolde, der Autor
Bild: Sebastian Goedecke

Durch genau dieses philosophische Fahrwasser manövriert Nolde das gesamte Buch. Das ist das Schwierigste, mit dem er sich hier herumschlagen konnte, und so wirkt es mitunter gewollt.
„Hat das Leben einen Sinn?“
Das ist eine womöglich berechtigte Frage, auf jeden Fall eine, mit der wir uns mit unseren noch grünen Ohren oft herumschlagen. Aber so explizit gestellt wirkt sie wie die angestrengte Einleitung eines Referats über Nietzsche. Jans Poesie findet keine Antwort, und die un-existenzielle Geschichte hilft uns auch auf der Oberfläche der Sinnsuche nicht weiter. Kann man Sinn finden, wenn man das Erlebnis sucht, wie Jan, Flo und Maja es tun? Nach dem Schuss am Schluss bleibt die Erkenntnis, wie viel die Figuren sich bedeuten. Was vorher ein langer Schrei nach Jugend war, wächst nun zusammen, und die früheren Handlungen fügen sich ins Ende. Ein Wochenende Ausrasten führten die Charaktere zwar nicht zu einem Sinn, aber zu keimender Hoffnung für sich selbst.
Texte, die dich auch interessieren könnten.
- Für *Allürenfreie Rockstars: Kater statt Lampenfieber28. September 2013
Noch keine Kommentare vorhanden.