Schauplatz Besiktas
4. Juni 2013
Von Kathrin Wiewe
Noch immer liefern sich Demonstranten und Polizisten in Istanbul Straßenschlachten. Besonders betroffen ist der Stadtteil Besiktas, in dem TONIC-Autorin Kathrin Wiewe seit einem halben Jahr studiert. Jetzt erlebt sie, wie sich dort die Ereignisse überschlagen.
Bild: facebook/Twitter

Schon wieder Kämpfe, schon wieder Wasserwerfer und Tränengas. Es ist Montagabend. Die dritte Nacht nacheinander verbringe ich vor meinem Laptop und verfolge bei Facebook und Twitter, was in der Stadt gerade passiert. Die Wohnung verlassen will ich nicht, also bleibt mir die Kommunikation mit meinen Freunden über Telefon und Internet. Einige sind auf den Straßen unterwegs. Gerade eben hat mir jemand den Link einer Liveübertragung geschickt. Ich erkenne eine Straße unweit meiner Universität in Besiktas wieder. Mehrere Dutzend Menschen stehen in einer Linie und klatschen. Die meisten tragen Tücher über Mund und Nase, auf dem nassen Boden spiegelt sich die Straßenbeleuchtung. Polizei sehe ich nicht, doch für die große Pfütze wird ein Wasserwerfer verantwortlich sein. Die Bilder ruckeln, der Ton funktioniert nicht, ich habe keine Ahnung, was dort gleich passieren wird. Bekannte, die in Besiktas wohnen, schreiben mir, dass schon wieder Gas in der Luft liegt, irgendwo scheint es bereits ernster zuzugehen.
Vergangene Nacht haben die Polizisten die Bahcesehir-Universität angegriffen, an der ich das letzte Semester studiert habe. Das Hauptgebäude steht direkt an der Uferpromenade von Besiktas. Die Straße vom Dolmabahce-Palast führt genau daran vorbei. Der Abschnitt vor dem Palast ist einer der Hauptgefechtsorte, da Ministerpräsident Erdogan dort ein Büro hat. In der Eingangshalle der Universität haben Sanitäter und Demonstranten eine Krankenstation eingerichtet. Ein Kommilitone lädt ein Bild bei Twitter hoch, auf dem ein Mann mit blutender Kopfwunde auf einem Tisch liegt, zwei Sanitäter beugen sich über ihn. Freunde vor Ort schreiben mir, dass viele dort sind, die vom Tränengas permanent husten müssen und kaum noch sehen können. Als erste Hilfsmaßnahme sprühen sie sich gegenseitig Milch in die Augen, das soll das Brennen lindern.
Was stimmt und was nur Gerücht ist, ist manchmal schwer zu unterscheiden
Immer noch Sonntagabend: Ich aktualisiere meinen Facebook-Verlauf. Ein Video aus unserer Uni taucht auf. Ich klicke es an: Durch die Haupthalle rennen schreiende Menschen, die Kamera ist auf die gläserne Eingangstür gerichtet. Hinter der Scheibe laufen Polizisten, gerade haben sie mehrere Gasbomben gezündet; bald ist nur noch weißer Rauch zu sehen. Das Sicherheitspersonal hält sich die Hände vors Gesicht und drückt die Türen zu, die sich wegen des Bewegungsmelders öffnen wollen. Die Leute fliehen ins Innere des Gebäudes. Ein junger Mann mit großer Spiegelreflexkamera geht in die Knie, um Fotos zu schießen. Sein Freund packt ihn am T-Shirt, reißt ihn hoch und zieht ihn mit sich. Das Video bricht ab. Wenig später der nächste Eintrag: Die Tür ist zerbrochen, das Gas strömt hinein. Ich warte ab – keine Neuigkeiten. Alle paar Minuten überprüfe ich die Facebook-Seite von Occupy Gezi, die die meisten Neuigkeiten liefert.
Seit Beginn der großen Demonstrationen am Freitagabend hat die Seite 30.000 Anhänger gewonnen. Alle zehn Minuten teilen die Blogger dort Fotos, Videos und Meldungen zur Lage der Proteste in der ganzen Türkei. Was stimmt und was nur Gerücht ist, ist manchmal schwer zu unterscheiden. Das Video meines Kommilitonen haben sie geteilt. Wenige Minuten später lese ich, dass Polizisten in Ankara soeben auf eine Gruppe Demonstranten mit Schlagstöcken losgegangen sind, die sich in einem Gebäude versteckt hatten. Der Sender "Halk TV", der online live über die Geschehnisse berichtet hat, soll offline sein. In Istanbul blockiert die Polizei scheinbar die Bosporus-Brücken, um zu verhindern, dass Leute aus dem asiatischen Teil die Demonstranten hier unterstützen. Auch an den Fährhäfen sollen sie die Menschen abfangen. Erdogan hat die Türkei verlassen und reist soeben nach Marokko, Tunesien und Algerien.
"Die Prinzipien unabhängiger Berichterstattung werden missachtet"
Der nächste Eintrag: Ein Brief der Künstler aus Taksim, indem sie die Zensur der großen türkischen Medien in Bezug auf die Ereignisse um den Gezi Park verurteilen. "Als Künstler, Schauspieler und Autoren dieses Landes verachten wir NTV, CNNTurk, HaberTurk, KanalD, Atv, Star, ShowTV und TRT, die sich selbst als führende unabhängige Nachrichtenquellen darstellen. Genauso die Zeitungen Star, Sabah und HaberTurk, wie auch andere Blätter, die die Geschehnisse des Gezi Park-Widerstands zensieren und damit die Prinzipien unabhängiger Berichterstattung missachten".
Mein türkischer Mitbewohner verfolgt ebenfalls die Nachrichten von "Occupy Gezi", auch er hat den Brief der Künstler gelesen. Die türkischen Medien regen ihn auf, denn er fragt sich wie viel die Mehrheit der Türken über die Proteste weiß. Diejenigen, die die Massenmedien konsumieren, erfahren entweder gar nichts von den revolutionären Zuständen in Istanbul oder bekommen die Sichtweise der Erdogan-Partei AKP aufgedrückt. Die AKP gibt die Richtlinie der Medien vor, regelmäßig wandern Journalisten in der Türkei ins Gefängnis. Am Sonntagnachmittag lud der Sender "HaberTurk" Erdogan zu einem Interview ein, in dem er die sozialen Medien als Plage der Gesellschaft bezeichnet, Menschen, die Alkohol trinken, Alkoholiker nennt und die Bevölkerung zur Sittsamkeit an öffentlichen Orten ermahnt. Auf dem Taksimplatz will er eine Moschee bauen.
Wie es jetzt gerade wohl in Besiktas aussieht? Ich rufe die Seite von "Occupy Gezi" auf. In der letzten halben Stunde haben die Blogger nur eine neue Meldung veröffentlicht: Feuer in Ankara, die Polizisten vor Ort haben die Identifikationsnummern auf ihren Helmen abgeklebt und warten auf die Demonstranten. Keine Neuigkeiten von meinen Freunden.
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