Ich bin euer Diener, nicht euer Meister
5. Juni 2013
Von Claudia Flach
Mit dem Tempo der Ereignisse in Istanbul können die etablierten Medien nicht mithalten. Wer auf der Höhe des Geschehens bleiben will, muss auf Twitter ausweichen. Hier erst sieht man, welche Ausmaße der Protest angenommen hat. Einen "türkischen Frühling" auszurufen wäre aber ein Fehler. Ein Kommentar von TONIC-Autorin Claudia Flach.
Bild: Aaron Stein

Montag, 2. Juni 2013. Bei mir ist es jetzt 2:24 Uhr, auch in Istanbul ist es mitten in der Nacht. Ich kann nicht schlafen. Den ganzen Tag schon sitze ich vorm Rechner, lese die neusten Tweets und die internationale Berichterstattung: die deutsche, die türkische, die englische – alles, was ich in die Finger kriege. Bis zu diesen Ereignissen hielt ich Twitter für nett, aber entbehrlich. Jetzt bin ich völlig fasziniert davon. Ich bin so nah dran an den Protesten in Istanbul, wie es nur geht, wenn man 1713 Kilometer Luftlinie entfernt in einer anderen Stadt, in einem anderen Land ist.
Seit Freitagnacht, als der Protest im Gezi-Park gewaltsam aufgelöst wurde, versuche ich mir ein Bild davon zu machen, was passiert. Vor drei Monaten bin ich aus Istanbul nach Deutschland zurückgekehrt. Güney, einer meiner Freunde aus dieser Zeit, zeltet seit dem 29. Mai selbst im Park. Durch ihn bekomme ich eine Ahnung, wie langsam die deutschen, aber auch die internationalen Medien, wirklich sind. Anscheinend vertrauen sie den Sozialen Medien wie Twitter nicht, oder ihre Korrespondenten sind anderweitig beschäftigt. Vielleicht besteht auch kein Interesse an den andauernden Aktualisierungen, ich weiß es nicht. Jedenfalls ist das, was ich in den Medien lese, nur ein Bruchteil dessen, was mir auf allein auf Twitter begegnet. Ein wenig wünsche ich mir, ich wäre auch vor Ort, ich könnte helfen, Fotos machen, zeigen was wirklich passiert. Andererseits bin ich froh, in Sicherheit zu sein.
Trotz allem: Zu wissen, dass Freunde, mit denen ich vor ein paar Wochen noch zusammen die Stadt erkundet habe, jetzt auf den Straßen sind und gegen Tränengas und Schlagstöcke kämpfen, das ist hart. Jedes neue Bild, jede Straße die ich wiedererkenne, lässt mich zusammenzucken.
Die Polizisten müssen keine Konsequenzen fürchten
Die Polizei stört derweil das Internet rund um den Taksim, denn die meisten Demonstranten sind jung und verständigen sich über Twitter und Facebook. Trotzdem kursieren Notfalllisten mit WiFi-Passwörtern umliegender Geschäfte, Telefonnummern von Ärzten und Anwälten. Und vor allem an Ärzten und Medikamenten fehlt es bald dringend. Kurzerhand wird eine Moschee zur medizinischen Anlaufstelle und zum Schutz vor den Polizisten. Und die konservativen Medien? Die reagieren empört, weil die Flüchtigen die Moschee mit Schuhen betreten haben. Überhaupt sind die Türken enttäuscht von ihren Medien, weil sie kaum oder gar nicht berichten.
Istanbul auf den Beinen - Tag und Nacht
Bild: Aaron Stein

Wer nichts wird, wird Polizist. So hat es mein Mitbewohner in Istanbul formuliert. Erklärt das das brutale Vorgehen? Dass friedliche Demonstranten angegriffen werden, sogar Passanten? Oder reicht schon, dass die Polizisten keine Konsequenzen fürchten müssen, weil sie noch nie zur Verantwortung gezogen wurden? Reicht dass, um die zentrale Metrostation am Taksim auszuräuchern, indem man eimergroße Tränengaskanister hineinwirft?
Die Metrostation Taksim. Jeden Tag bin ich dort ein- und ausgestiegen. Morgens: Treppe hoch, linksrum, am Starbucks vorbei, dann der Blumenhändler, der Brötchenverkäufer, das Deutsche Konsulat. In den steilen Straßenschluchten blitzte das Meer auf, der Bosporus liegt dort unten und glitzerte friedlich.
Jetzt glitzert nichts mehr. Auf den Fotos sind die Menschen in graubraunen Nebel gehüllt. Das Tränengas ist überall. Tausende, zehntausende, hunderttausende Demonstranten. Die Zahlen gehen weit auseinander. Aber die Luftaufnahmen zeigen, dass der ganze Taksim voller Menschen ist, dicht gedrängt. Erdoğan hat Glück, dass Istanbul auf zwei Kontinenten liegt. Sonst wären sicher noch viel mehr Menschen vor Ort. Fährt man nicht mit dem Boot über den Bosporus, braucht man im Auto mindestens eine Stunde. Und es gibt nur zwei Brücken, für 15 Millionen Menschen.
Erdoğan gießt Öl ins Feuer
Am Samstag machten viele deutsche Nachrichtenseiten Istanbul zum Aufmacherthema, es war ja auch erst wenige Stunden her. Bis abends dann das DFB-Pokalfinale begann, Bayern München das Triple komplett machte, und schon rutschte Istanbul auf den Startseiten ein gutes Stück nach unten. Dass sich die Proteste derweil nach Ankara und Izmir verlagerten, wurde in dieser Nacht nicht mehr gemeldet. Deutschland war beschäftigt.
Die Huffington Post titelte unterdessen "Police state: Turkey cracks down" und zeigte das Bild eines Demonstranten: Er liegt am Boden, blutet am Kopf, jemand versucht die Wunde zu verbinden.
Immer mehr Bilder begegnen mir, auf denen Menschen zum Teil schwer verletzt sind. Menschen, die ein Auge verloren haben oder deren ganzer Rücken rot und blau geschlagen ist. Erdoğan gießt genüsslich Öl ins Feuer, nennt die Demonstranten Extremisten und Plünderer, die er für seine Projekte nicht um Erlaubnis fragen müsse. Der Bürgermeister von Ankara tut es ihm gleich, nur dass er sich auf Twitter über die Demonstranten lustig macht, ihnen droht – und dafür kräftig Gegenwind bekommt. Auf den gleichen Kanälen kursieren derweil Selbstbauanleitungen für Gasmasken, für umgerechnet einen Euro Material. Und der Hinweis, dass man mit nassen Kleidungsstücken im Auspuff eines Polizeifahrzeugs dessen Motor absaufen lassen kann.
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