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Für *Privilegierte

Das Schnecken-Studium

7. November 2012
Von Anna Mayr

Marc meinte, Bachelor und Master in vier Semestern sei Freiheitsberaubung seiner selbst. Anna aber scheißt auf die Selbstfindung der privilegierten Langzeitstudenten und coolen Individualisierungs-Kids und arbeitet lieber bis 130. Eine Antwort.

Vielleicht lieber vier Semester die Bratpfanne auf die Stirn kloppen?

Vielleicht lieber vier Semester die Bratpfanne auf die Stirn kloppen?

Lieber Marc,

Jeder Jeck ist anders. Nehmen wir an, Marcel Pohl wäre nicht der Antichrist Turbo-Student mit seinem Bachelor und seinem Master in insgesamt vier Semestern. Stell Dir vor, dieser Marcel Pohl hätte Lust darauf gehabt, sich zwei Jahre lang mit einer Bratpfanne vor die Stirn zu schlagen. Das ist so hirnrissig wie elf Semester innerhalb von vier Semestern zu studieren und sich von sämtlichem sozialen Leben loszusagen. Aber stell Dir vor, das wäre seine Freude im Leben gewesen, sein Ding. Nichts auf der Welt hätte Marcel so einen verdammten Kick gegeben wie diese Bratpfanne. Hättest Du ihm das auch so sehr verübelt? Dich so abfällig über seinen Lebensinhalt geäußert, nur weil Dein persönlicher Entwurf des Glücks ein anderer ist?

Du klingst wie die moralische Übermacht über alle Studenten dieses Kosmos, die sich vom "Leistungsdruck der Gesellschaft" beeindrucken lassen. Du sagst aber nichts darüber, wie Du dein Studium finanzierst. Meine Freunde, deren Eltern ihnen Wohnung und Semesterbeitrag bezahlen, neigen dazu, eine Doktrin immer wieder aufzusagen: Studieren ist teuer. Für viele geht es bei der Regelstudienzeit nicht um die Leistung, sondern um die Verantwortung, nicht mit dem Vermögen Anderer zu spielen. Für Marcel war das nicht der ausschlaggebende Grund – aber deine in-den-Tag-hinein-Einstellung ist eine Attitüde der Privilegierten.

Ich muss nicht in den Urwald reisen um zu wissen, wie ich meine Küche streichen will. Meinen ersten Schein hatte ich mit 15.

Und Stefanie, die 16-jährige Studentin? 16 Jahre, das sind die Nachzügler. Ich hatte meinen ersten Schein mit 15 in der Tasche. In der elften Jahrgangsstufe habe ich angefangen, als Schüler-Studentin Anglistik zu studieren. Ich durfte für die Seminare immer ein paar Stunden Schule ausfallen lassen, das fand ich damals natürlich ziemlich cool. Aber viel wichtiger ist: ich bin in diesen drei Semestern an mir selbst gewachsen. Ich glaube nicht an "Selbstfindung", ich muss nicht erst in den Urwald reisen um herauszufinden, in welcher Farbe ich meine Küchenwand streichen sollte. Meine Freunde zweifelten, dass ich es schaffe, mit Vollzeit-Schule, Teilzeit-Studium und drei Nachhilfeschülern überhaupt noch "ein Leben zu haben". Aber nach einem Tag an der Uni war ich nicht gestresst und ausgelaugt, sondern glücklich. Man könnte fast sagen, ich habe mich gefunden.

Was Marcel Pohl geleistet hat, beeindruckt mich. Er wird sein ganzes Leben auf diese zwei Jahre zurückblicken können, gemeinsam mit seinen zwei Kommilitonen, die das "Experiment" mit ihm durchzogen. Er wird darüber nachdenken und sagen können: geil, was ich geschafft habe. Ist das ein Sklave der Leistungsgesellschaft? Oder sind diejenigen vom Typus Langzeitstudent vielleicht Sklaven ihrer eigenen Unentschiedenheit?

Ich hatte null von dem coolen Zeug, zu dem die Individualisierungs-Kids verdammt sind

Richtig an die Uni gegangen bin ich direkt nach dem Abi. Kein Auslandsjahr, nicht einfach mal 'ne Runde jobben, null von dem ganzen coolen Zeug, das die Kinder der Individualisierung heutzutage zu tun verdammt sind. Und wenn mein Stundenplan und die Bürokratie meiner Universität es hergeben würden, ich würde mindestens vier Fächer parallel in so wenig Zeit wie möglich studieren. Nicht, weil ich mir damit besonders gute Berufschancen ausrechne. Ich bin, wie Du, kein Ziel-Studierer. Ich bin einfach gerne hier. Meine Fächer, Deutsch und Geographie, studiere ich aus purem Interesse. Nicht auf Lehramt, sondern auf Arbeitslos. Ich würde gerne nebenher Philosophie studieren, Biologie vielleicht, Englisch auch noch, und mindestens drei neue Sprachen lernen. Studieren um des Studierens Willen ist eine Supersache. Mein Studentenleben besteht aber nicht aus bis mittags schlafen, Vorlesung schwänzen, vortrinken, feiern, nächstes Semester weiter so. Eine gute Diskussion im Literaturwissenschafts-Seminar, tausend mal mehr Spaß als um fünf Uhr morgens zum dritten Mal das gleiche Lied im Club meines Vertrauens zu hören. Nichts gibt mir so einen verdammten Kick wie Bücher und Statistiken und Karteikarten.

Scheiß auf Selbstfindung, statt Sommerurlaub arbeite ich lieber bei der Lokalzeitung.

"Dann lass Dir doch Zeit damit!", sagst Du jetzt.

Aber ich liebe auch meinen Beruf. Den Leuten, die am besten niemals von der Uni weg wollen, weil sie noch überhaupt keinen Bock auf arbeiten und einen 9 to 5 Job haben, steht ein trauriges Leben bevor. Denn nach 32 Semestern ist Uni vorbei, und dann müsst Ihr den Mist machen, der Euch übrig bleibt. Ich hatte seit zwei Jahren keine Sommerferien mehr. Ich habe die sechs Wochen zwischen zwei Schuljahren an einem Schreibtisch verbracht, in einem 10 to 6 Job, bei meiner Lieblings-Lokalzeitung. Dort riecht es immer nach schwarzem Kaffee, der Kollege ist meistens schlecht gelaunt und der Fotograf guckt sich den ganzen Tag unlustige Youtube-Videos an. Aber scheiß auf Studentenleben, scheiß auf Ausschlafen und Selbstfindung. Meine Worte in dieser Zeitung fühlen sich an wie Verliebtsein.

Ich studiere gerne und schätze meine Freiheiten. Aber ich will nicht in der Uni versacken, denn am liebsten möchte ich eigentlich arbeiten, bis ich 130 bin.


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Kommentare

NYC NY Local movingAm 24. September 2021

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