Nabil will in die Schule
2. Mai 2012
Von Rafael Krämer, Nick Jaussi, David Erdmann, Ruben Neugebauer und Jakob Schily
Sein Onkel will ihn als Drogenkurier arbeiten lassen, doch Nabil* will lernen – deshalb muss der Sechzehnjährige aus Afghanistan fliehen. Doch slowakische Grenzpolizisten stellten sich in Nabils Schulweg. Nun muss er zurück nach Afghanistan.
Nabil, ein sechzehnjähriger Afghane in Abschiebehaft.

Nabil schlug sich ganz alleine bis in die Slowakei durch. Er hatte die Schengengrenze bereits hinter sich, als er auf seinem Weg in die Schule von slowakischen Grenzpolizisten verhaftet und direkt in die Ukraine zurückgeschoben wurde. Die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen bekam er nicht, obwohl das Europäische Recht dies vorsieht. Jetzt soll er zurück nach Afghanistan.
Es ist noch nicht lange her, dass Nabil durch die dichten, hügeligen Wälder Transkarpatiens schlich, um eines Nachts heimlich die Schengengrenze zu überqueren. Die Grenzlinie, bestehend aus einer Kombination von Bewegungsmeldern, Wärmebildkameras, Detektorkabeln und anderen Dingen, von denen George Orwell nur hätte Träumen können, hatte Nabil schon hinter sich. Er hatte es geschafft, er hatte den Eisernen Vorhang 2.0 passiert, er war im Westen, in der Europäischen Union! Der schwierigste Teil des Weges war geschafft – so glaubte er. Doch dann wurde Nabil gemeinsam mit einer Gruppe jugendlicher Flüchtlinge von der slowakischen Grenzpolizei aufgegriffen. Jetzt sitzt er im Abschiebegefängnis von Chop, einem ukrainischen Militärposten im Dreiländereck zwischen der Ukraine, Ungarn und der Slowakei.
Der Grenzschutz im ukrainischen Uzhgorod.

Wir treffen Nabil bei der Migrationsbehörde der Grenzstadt Uzhgorod. Zwei ukrainische Grenzsoldatinnen führen ihn und einige andere minderjährige Afghanen zu einem Verhör vor.
Nabil, der sagt, dass er sechzehn Jahre alt ist, ist der Älteste der Gruppe, die anderen Jungs sind vielleicht zwölf oder vierzehn. Es ist schwer zu schätzen, die meisten von ihnen sehen erwachsener aus, als sie es sind. Das Erlebte hat sie gezeichnet.
Schule oder Taliban?
Nabil ist alleine aus Afghanistan geflohen. Seine Eltern sind 2001 während des Krieges umgekommen, er war damals sechs Jahre alt. Nach dem Tod seiner Eltern lebte er bei seinem Onkel, der ist bei den Taliban. Nabil wollte zur Schule gehen, doch sein Onkel wollte, dass er ihm beim Drogenschmuggel hilft. Als er sich also dem Onkel verweigerte, drohte der damit, ihn umzubringen.
Nabil nahm daraufhin mehrere tausend US-Dollar seines Onkels und machte sich unbemerkt aus dem Staub. Mit dem Geld bezahlte er Menschen, die ihn mit dem Auto über Kabul Richtung Westen mitnahmen.
6000 km sind es von Uzhgorod bis Kabul, die komplette Strecke über Usbekistan, Kasachstan, Russland und die Ukraine hat sich der Sechzehnjährige alleine durchgeschlagen, viele Wochen hat er im Auto verbracht, über staubige Pisten, meistens bei Nacht. Einige Grenzen hatte er bereits passiert, als EU-Beamte seine Flucht vorerst stoppten.
Eigentlich sollte Nabil gar nicht hier sein. Jeder Flüchtling bekomme die Möglichkeit in der Slowakei einen Asylantrag zu stellen, versichert Jan Vinc, ein leitender Offizier der slowakischen Grenzpolizei. Nabil steht nun aber hier vor uns und seine Erzählungen klingen plausibel, zumal auch andere Flüchtlinge immer wieder bestätigen, dass sie aus der Slowakei abgeschoben wurden, ohne die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen – darunter nicht wenige Minderjährige.
Nabil wirkt aufgeweckt, er spricht verhältnismäßig gutes Englisch. Sogar ein bisschen Russisch hat er sich unterwegs selbst beigebracht, so kann er manchmal für die anderen Jungs im Gefängnis übersetzten. Im Gefängnis gibt es nämlich keine Übersetzer. Nur gegen Geld, erzählt Nabil. Die Korruption ist hier allgegenwärtig, egal ob es um Zigaretten, Übersetzer, Papiere, oder die Entlassung aus der Abschiebehaft geht, für alles mögliche werden den Flüchtlingen hier Gebühren auferlegt, die es offiziell gar nicht gibt.
Die Baracken im Gefängnis von Chop, wo Nabil und die anderen Jungs interniert sind, sind frisch verputzt. Sie sehen besser aus als manche Asylbewerberunterkunft in Deutschland und es gibt sogar einen nagelneuen Sportplatz hier. Nachdem die Zustände im Lager in Folge von Medienberichten international für Kontroversen sorgten, wurde das Gefängnis mit Mitteln der Europäischen Nachbarschaftspolitik von der EU saniert. So teilen sich jetzt nur noch zehn Flüchtlinge eine Zelle und nicht wie Früher 50. Auch eine Klimaanlage hat die EU springen lassen, doch hinter dem neuen Anstrich sind die alten Probleme geblieben.
Auf den nagelneuen Sportplatz konnte Nabil nie.
Nabil kennt nicht einmal seine Zellennachbarn. Die Zimmer bleiben immer verschlossen, erzählt er uns, "wenn man aufs Klo möchte, muss man klopfen, und die Soldaten lassen sich dann schon mal Zeit.” Zu Essen gibt es jeden Tag nur eine dünne Suppe, auf dem Sportplatz spielen durfte Nabil noch nie.
Nabil erzählt uns, dass er nach England oder Deutschland möchte, um dort in die Schule zu gehen, zurück kann er nicht, er fürchtet sich vor seinem Onkel, dessen Geld er genommen hat. In sehr ruhigem Ton spricht er von der Flucht und von dem, was ihn in Afghanistan erwarten würde, lediglich im Umgang mit den anderen Jungs merkt man ihm sein wahres Alter an.
Nabil würde uns offenbar gerne noch mehr erzählen, doch wir werden von den Soldatinnen, die die jungen Flüchtlinge bewachen, unterbrochen. Nabil muss zum Verhör.
Im Verhör erfährt Nabil, dass er, da er minderjährig ist, nicht in der Ukraine bleiben kann und deshalb wieder nach Afghanistan zurück muss. Sein Onkel wartet dort schon auf ihn.
Nabils Ende der Flucht an der Grenze zur Slowakei zum Durchklicken – Sämtliche Bilder von den Autoren.
* Name von der Redaktion geändert
Die Bilder mussten die Journalisten Jakob, Ruben, Nick, Rafael und David fast alle heimlich schießen - Denn das Fotografieren der EU-Grenzanlagen ist verboten. Absurd finden sie, dass die Fußball-EM im Juni in Polen und der Ukraine stattfindet und unter dem Motto "gemeinsam Geschichte schreiben" steht, obwohl eine hochgesicherte Grenze zwischen den Ländern liegt.
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