Das Loch im Zaun
30. März 2012
Von Thilo Neubacher
Vor zwölf Jahren trafen sich einige Fußballverrückte zum ersten Mal auf einem versteckten Platz im Leipziger Süden, um ihrem Hobby nachzugehen. Doch der regelmäßige Fußballtreff ist für alle Beteiligten längst mehr als nur ein Freizeitvergnügen.
Bild: Emanuel Böhme

Der Artikel erschien erstmals in KiPPE, seit 1995 Leipziger Straßenzeitung. Die Verkäufer und Verkäuferinnen sind meist in sozialer Not, von Wohnungslosigkeit bedroht oder gar wohnungslos – in dieser Hinsicht stehen sie auf der "Kippe". Die Zeitung ermöglicht ihnen nicht nur Geld zu verdienen, sondern auch mit der Gesellschaft im Kontakt zu bleiben.
Für viele ist der wilde Verein "Bastards United International FC" inzwischen zur zweiten Familie geworden. "Achim" ist 51 und steht im Tor. Er muss mitansehen, wie "der Lange", 13 Jahre jünger, den letzten Abwehrspieler stehen lässt, schnell tankt er sich durch und hat freie Schussbahn. "Der Lange" nimmt Maß, holt aus, doch im letzten Moment verspringt der Ball in einem der zahllosen kleineren Löcher im aufgewühlten Boden. Der so unberechenbar gewordene Schuss schlägt unhaltbar im Tor ein. Das Gehäuse zittert, und hätte "Achim" nicht mit eigenen Händen vor einiger Zeit das Metalltor mit Schienen geflickt, sicher wäre es krachend zusammengebrochen. "Der Lange" ballt die Faust und klatscht bei seinen Mannschaftskollegen ab, sein Ausgleichstreffer wird später gewissenhaft notiert und ausgewertet, genauso wie der Rest des Spielgeschehens.
Was sich zunächst anhört wie normaler Vereinsalltag, ist auf den zweiten Blick eben doch nicht so gewöhnlich. Denn die Bastards United sind ein wilder Verein, der nur inoffiziell besteht. Die Mannschaft ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Arbeitsuchenden, Studenten, Schülern, Immigranten und Leuten, die einfach zufällig vorbeikamen. Schon immer war die Fluktuation der Spieler dabei hoch. Einige, die heute auf dem Platz stehen, machen zum ersten Mal mit, andere, wie "der Lange", sind von Beginn an dabei. Das heißt seit zwölf Jahren. Auch das Alter spielt hier keine große Rolle, jeder, der ein wenig mit dem Ball umgehen kann und will, wird bei den Bastards aufgenommen. Hier treffen die verschiedensten Generationen, Nationalitäten und sozialen Schichten aufeinander, um zusammen der schönsten Nebensache der Welt nachzugehen.
Vergessenes Fußballparadies
Jeden Montag und Donnerstag trifft man sich auf dem versteckten Platz, mal zu viert, mal zu zwanzigst, je nachdem, wer gerade Zeit und Lust hat. Dabei spielt das Wetter keine Rolle. Selbst im kältesten Winter, bei Eis und Schnee, zwängen sich die Bastard durch das Loch im Zaun auf "ihren" Platz. Genau der stellt die größte Besonderheit des wilden Vereins dar. Leipzig hat viele öffentliche Fußballplätze, doch die Heimspielstätte der Bastards gehört nicht dazu. Sie ist so inoffiziell wie der Verein selbst. Von der Straße aus nicht zu erkennen liegt der Platz geschützt von Bäumen und Dickicht hinter einem langen, soliden Metallzaun. Theoretisch gehört er der Stadt, doch schon seit Jahren wurde hier nichts mehr unternommen, wie so viele Grundstücke liegt das versteckte Fußballparadies brach. Genau diesen Zustand wollen die Bastards erhalten, man will "keine schlafenden Hunde wecken", so "der Lange". Deshalb wird das Engagement um den Platz und die jüngeren Mitglieder auch nicht an die Öffentlichkeit getragen, deshalb wollen die Bastards nur mit Spitznamen genannt werden. Zu groß wäre das Risiko, dass doch jemand auf den vergessenen Ort aufmerksam wird. Dann könnten ganz schnell Pläne zur Bebauung geschmiedet oder Verbote ausgesprochen werden, und für die Bastards wäre kein Platz mehr.
Durch den Zaun geht es zum Bolzen.
Bild: Emanuel Böhme

Um die Pflege der Heimspielstätte kümmert sich "Achim" schon seit Jahren ganz privat. Immer wenn es nötig wird und das Unkraut so hoch wuchert, dass es schon fast zum Gegenspieler wird, fährt er mit seinem Rasenmäher zum Platz. Er kürzt das Grün rigoros, so dass Flanken und Eckbälle wieder präzise den Weg in den Strafraum finden. Auch die Tore hat er schon oft ausgebessert.
Für viele sind die Bastards wie eine zweite Familie
"Achim" ist so etwas wie die gute Seele der Mannschaft. Für den 51-jährigen sind die wöchentlichen Treffen mehr als nur ein Hobby. Genau wie für den "Langen" geht es ihm darum, rauszukommen aus dem alltäglichen Trott, einen sinnvollen Ausgleich zu haben. Beide sind dabei hoch engagiert, als Trainer, Platzwart, Manager und Spieler zugleich. Da werden schon einmal Testspiele gegen andere Hobbyteams angesetzt und mit der Videokamera aufgezeichnet, um danach kritisch zu analysieren, was im Spiel noch zu verbessern wäre. Statistiken werden erstellt und am Ende jedes Jahres gibt es eigens gestaltete Jahresstatistiken, zum Beispiel für den besten Torjäger oder den Spieler mit den meisten Eigentoren. Das schweißt zusammen. Aber es geht eigentlich um mehr als nur Fußball. Für die meisten Mitglieder haben sich die Bastards inzwischen zu einer Art zweiten Familie entwickelt. Einige, die als 12-jährige angefangen haben, sind mit dem wilden Verein groß geworden. Und so mancher junge Mitspieler, der in fragwürdige gesellschaftliche Richtungen abgedriftet war, wurde hier von den Älteren zur Seite genommen und "am Herzen gepackt". Schließlich kann man nicht jahrelang mit Bosniern, Nordiren oder Franzosen zusammen kicken und plötzlich gegen Ausländer sein. Es geht um Toleranz, um Offenheit, um Fußball als Chance, "alle in ein Boot zu bekommen". So spielen die Bastards United über das bloße Vergnügen hinaus für alle Mitspieler auch sozial eine große Rolle. Für den "Langen" ist das Projekt ein Hauptgrund, warum er Leipzig nie verlassen würde: "Ich könnte nicht auf diese Familie verzichten".
Bastards FC: Unabhängigkeit statt Stütze
Bild: Emanuel Böhme

Ohne Zweifel, hier sind echte Fußballromantiker am Werk. Es steckt jede Menge Herzblut im Projekt Bastards United, genauso engagiert wie es auf dem Spielfeld zur Sache geht, wird Fußball hier auch diskutiert, analysiert, gelebt. Und das alles seit zwölf Jahren, ohne dass es eine offizielle Anerkennung oder die stützende Struktur eines Vereins dahinter gibt. Denn gerade um diese unabhängige, wilde und nicht an Satzungen gebundene Seite des Sports geht es den Bastards. Sie sind ein Herzblutprojekt aus Eigeninitiative, aus Leidenschaft, aus Liebe zum vielleicht schönsten Sport der Welt. Wer also das Glück hat, das Loch im Zaun zu finden, der entdeckt ein Stück echter, gelebter Fußballkultur in Leipzig.
Bild: Emanuel Böhme

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BUFCAm 26. Februar 2013
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