Flucht in die Schokoladenfabrik
11. Dezember 2011
Von Christoph Soeder und Fabian Stark
2009 reiste Sebastián Liste das erste Mal nach Brasilien, um das Leben und die Armut in einer besetzten Schokoladenfabrik festzuhalten. Die Serie Urban Quilombo brachte ihm internationalen Erfolg, doch die Fabrik wurde geräumt.
Aus "Urban Quilombo"
Bild: Sebastián Liste

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"Quilombo" ist ein historischer Begriff, er bezeichnet eine Niederlassung geflohener schwarzer Sklaven in Brasilien. Für sein Langzeitprojekt Urban Quilombo hat der 26-jährige Spanier Sebastián Liste eine besetzte Schokoladenfabrik in der brasilianischen Stadt Salvador de Bahia aufgesucht – dort hatten sich Familien eine Community gebildet, um vor Problemen wie Drogen, Prostitution und Gewalt auf den harten Straßen der Stadt zu fliehen. Im März 2011 räumte die Regierung die Fabrik jedoch, denn die Sichtbarkeit der Armut muss verschwinden: 2014 steht die Fußball-WM an, 2016 die Olympischen Spiele. Die 130 Familien, die zu der Zeit auf dem Gelände wohnten, beobachtet und dokumentiert der junge Fotograf Sebastián Liste immer noch – ein Interview.
Sebastián, Urban Quilombo war dein erstes international anerkanntes Projekt. Viele Bilder zeigen extreme Situationen: Kämpfende und liebende Menschen, Drogenkonsum. Denkst du, dass die menschliche Natur sich am besten zeigt, wenn man zu Extremen gelangt?
Ich glaube, die menschliche Natur kennt vielfältige Formen sich uns zu zeigen oder zu offenbaren. Urban Quilombo ist eine vollkommen gefühlslastige Arbeit, ein subjektives Dokument, eine Interpretation, was ich an diesem Ort erlebt habe. Ich habe bei dieser Arbeit nach keinem Gleichgewicht oder einer besonders akkuraten Erzählform gesucht, es war vielmehr ein intensiver Prozess, bei dem ich mich von tiefgreifenden Erfahrungen leiten lassen habe.
Du hast auch intime Momente festgehalten, etwa Menschen beim Sex. Wie bist du den Menschen begegnet um genug Vertrauen zu Ihnen aufzubauen, sie von so nah fotografieren zu können?
Ich habe nie geglaubt, dass ein vertrautes Verhältnis es ermöglicht Menschen zu fotografieren, und dass die Fähigkeit ein solches Vertrauen aufzubauen einen guten Fotografen ausmacht. Für mich gründet die Dokumentarfotografie darauf, Erlebnisse mit anderen zu teilen um sie ihnen zu erzählen. Wenn man soviel Zeit mit einer Menschengruppe verbringt, passieren allerlei Dinge. In diesem Fall war es eben ein Paar, das miteinander schläft. Das ist nichts, das man sucht, sondern das ergibt sich.
Die Menschen in Urban Quilombo flohen vor den gefährlichen Straßen der Stadt und besetzten sie eine alte Schokoladefabrik – Sie wollten Probleme wie Gewalt, Prostitution und Drogen in den Griff bekommen. Ist ihnen das gelungen und wenn ja, wie?
Ich denke, in mancher Hinsicht ist ihnen das gelungen. Dort hinzugehen bedeutete sich von noch größeren Problemen zu entfernen. Immerhin haben sie die verlassene Schokoladenfabrik in ein Zuhause verwandelt. In sehr kurzer Zeit haben sie eine große Familie gegründet und durch die Unterstützung der Gemeinschaft und das Teilen der Probleme konnten sie diese in manchen Bereichen überwinden.
Verfolgst du die Leute noch an dem Ort, an den sie jetzt umgesiedelt wurden?
Ja, ich dokumentiere das Leben dieser Gemeinschaft weiter. Alle Familien wurden im März 2011 aus der alten Fabrik geworfen, zusammen mit 400 weiteren Familien, die ihre Favelas räumen mussten. Jetzt leben sie alle in einem Haus im Außenbezirk der Stadt. Meine Absicht ist es zu sehen, wie dieser drastische Einschnitt die Rollen in dieser Gemeinschaft ändert und wie sie sich der neuen Umgebung anpasst und ihre Probleme dort weiter bekämpft.
Mit 26 bist du schon rund um den Globus gereist. Ist das Reisen für dich nur Mittel zum Zweck oder macht dir das Spaß?
Ich denke, nachdem ich an viele Orte gereist bin, habe ich auch meinen Platz in der Welt gefunden. Gerade habe ich nur zwei Langzeitprojekte. Eines im Mittelmeerraum, das andere in Lateinamerika. Das sind die Orte, an denen ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich mich mit den Leuten identifiziere, deren Sitten ich verstehe.
Was treibt dich zur Fotografie? Welchen Einfluss sollen deine Bilder auf dein Publikum haben?
Die Fotografie ist für mich eine der hauptsächlichen und wichtigsten Arten der Verständigung in der heutigen Welt. Sie durchbricht Sprachbarrieren und demokratisiert den Zugang zu Informationen.
Von meinen Bildern erwarte ich nicht, dass sie auf mein Publikum einen bestimmten Einfluss ausüben. Die Fotografie ist eine Sprache, die sich Interprationen öffnet. Mit meinen Fotos will ich mehr als nur beschreiben, was passiert. Wenn man immer ehrlich mit sich selbst ist, kann man den Betrachter in ein Gespräch ziehen, und dabei die Tür offen halten für verschiedene Gefühle, die wach werden und unterschiedliche Arten zu lesen, was man sieht.
Wann hast du angefangen Fotos zu machen?
Ich habe damit begonnen, als ich 18 war. Zu der Zeit war ich schon lange Schreiberling, ich hatte aber immer den Plan, einen universellen Weg der Kommunikation einzuschlagen, Gedanken zu übersetzen und meine Erfahrungen durch Bilder zu teilen. Ich denke, das ist mir mit der Fotografie gelungen.
Neben Soziologie hast du Fotojournalismus studiert. Wie wichtig war dein Abschluss in Fotografie für deine Karriere?
Wenn ich nur eines hätte studieren dürfen, hätte ich mich als Dokumentarfotograf für die Soziologie entschieden. Man braucht keinen Abschluss in Fotografie, um ein guter Fotograf zu sein, denke ich. Man muss menschliches Geschick lernen, um in der Welt etwas zu werden, und das lernt man nicht im entferntesten in der Schule. Es ist wichtig, dass man etwas lernt, aber etwas, das dich wirklich interessiert, und das dich als Mensch bereichert. Wenn man dann noch Fotograf werden will, wird man sicher einer.
Sebastián Liste, Fotograf
Bild: Sebastián Liste

Sebastián Liste – Bio
Sebastián Liste, 1985 geboren, wuchs in Barcelona auf. Nach dem Studium der Soziologie und des Fotojournalismus wurde er freischaffender Fotograf. 2010 bekam er für sein Langzeitprojekt "Urban Quilombo" das Ian Parry Stipendium. Seit Oktober ist er Teil der Joop Swart Masterclass, in der junge Pressefotografen aus aller Welt aufeinandertreffen. Sebastiáns Arbeiten sind unter anderem im Sunday Times Magazine, im Burn Magazine und der TIME erschienen.
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