Weltuntergang auf feine, englische Art
21. Oktober 2011
Von Matthias Seier
Es gibt Filme, deren Titel bei den meisten nur ein Achselzucken hervorrufen – obwohl sie einen Freudenschrei verdient hätten. TONIC-Redakteure stellen diese vergessenen oder verkannten Film-Perlen vor. Den zweiten Teil widmet Matthias Seier den "Neun Leben des Thomas Katz".
Die Welt steht Kopf vor ihrem Untergang
Bild: Strawberry Vale Films

Die Welt geht unter, irgendwie. Genaues weiß man nicht, die Informationen sickern nur spärlich in das schlichte BBC-Fernsehstudio, in dem sich ein Moderator, ein Rabbi und ein paar notorische TV-Experten versammelt haben, um über die Lage der Nation zu diskutieren. Und der geht es nicht sonderlich gut. "Neueste Nachrichten: Das Finanzsystem ist implodiert", sagt der BBC-Moderator mit ernster Miene in die Kamera. Über die Ursachen der bizarren Meldungen weiß man nichts, die eine Expertin schiebt jedoch die Schuld auf die Kinder. Sie holt aus ihrer Handtasche eine Stimmgabel, schlägt sie an und verursacht damit den Tod aller Kinder, die zuhören. Was zur Hölle, fragt man sich, was soll das? Man denkt, man ist im falschen Film gelandet. Und dabei gehört die Szene zu einem der besten britischen Filme der letzten 20 Jahre.
Aber der Reihe nach. Der Film, um den es hier gehen soll, trägt den etwas sperrigen Namen Die neun Leben des Tomas Katz und entstand unter der Regie von Ben Hopkins im vermeintlichen Weltuntergangsjahr 2000. Da der Großteil des knappen Filmbudgets für Kostüme, kleinere Effekte auf Tischfeuerwerkniveau oder die Filmmusik draufging, wurden die meisten Szenen im Londoner Stadtgebiet nach Guerillaart ohne Genehmigung gedreht.
Worum geht es in dem Film? Ein bizarrer Typ namens No beschließt das Ende des Universums. Das Ende ist unausweichlich und ganz London verliert dabei den Verstand. Bloß ein blinder Kommissar von Scotland Yard stellt sich der Bedrohung in den Weg. Die Welt endet trotzdem.
Um die Apokalypse in Gang zu bringen, wechselt No, innerhalb eines Tages neunmal seine Identität. Zuerst wechselt er sie mit seinem Taxifahrer, der ihn von seinem Ursprungsort, der M25 nahe London, in das Stadtzentrum bringt. Dort verwandelt er sich in Rory Spottiswoode, den Minister für Fischereiwesen, und erklärt dem Gwupigrupynudny-Land den totalen Krieg. Käptn Iglo soll den Krieg anführen.
Und so geht es weiter in den Körper des Londoner U-Bahn-Direktors, eines senilen Mannes, einer TV-Expertin; No funktioniert das irdische U-Bahnnetz in ein Schnellzug-System um, der die Seelen der Lebenden ins Reich der Toten befördert. Am Ende führen ihn seine Aktionen, die von den betäubt wirkenden Londonern beunruhigend desinteressiert zur Kenntnis genommen werden, zu Gott. Gott ist in diesem Film keine weise, transzendente Überfigur, sondern heißt Dave und ist der Kerl, der durch die Millionen Londoner Überwachungskameras sieht. Mit dem grässlich dummen Dave führt No seinen Plan zum Ende, lässt immer weitere Teile der Erde verschwinden und letztendlich sich selbst.
Das klingt zusammenhanglos? Naja, ist es auch. Doch im Chaos steckt so viel Sympathie, Liebe zum Detail und abgründiger, surrealer Humor, dass die eigentümliche Atmosphäre des Films einen sofort einsaugt. Die surreale Posse der Monty Pythons trifft auf die Traumwelten von David Lynch, auf den hintergründigen Aberwitz von Stanley Kubrick und die opulente Bildgestaltung von Fritz Lang. Dem Film haftet ein gewisser Retro-Futurismus an: Obwohl alles in der Gegenwart spielt, sind die Figuren, die Kleidung und die Requisiten des Schwarz-Weiß-Films alle auf dem Stand der 40er Jahre. Und alles wird durch den Filter der Moderne gezogen – mit musikvideoartigen Schnitten, Texteinblendungen oder einem "Sprung in der Platte", als der Film (oder Raum und Zeit?) eine Minute lang hakt und erst ein dezenter Klaps auf den Hinterkopf des Sprechers das Karussell wieder zum Drehen bringt.
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MarcAm 22. Oktober 2011
Wenn ich mich nicht irre, hatte ich noch nie so Bock einen Film zu sehen, wie nach dieser grandiosen Beschreibung! Unverschämt gut geschrieben!