Nicht von dieser Welt
28. August 2011
Von Anja Bossow
Nach einer durchzechten Nacht quält sich Anja in den Gottesdienst. Dort lernt sie die junge Missionarin Sister Singer kennen. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein und doch entdeckt Anja im Gespräch Gemeinsamkeiten.
Eine Nacht im Klub, Alkohol und ein Kater – Anja plagt beinahe ein schlechtes Gewissen.
Bild: Veronika Raupach

Ich gebe zu: Gestern hat mich das Pflichtbewusstsein verlassen. Artikeldeadline hin oder her- es war mir egal. Und das lag nicht an den Überzeugungskünsten meiner Freunde oder am Sekt. Es war einfach Samstagabend, gute Stimmung und ich hatte Lust zu feiern. Aber trotz leichten Schwips' ließ sich das schlechte Gewissen nicht so einfach abstellen. Plötzlich fand ich es respektlos in einem übernächtigten und wahrscheinlich verkaterten Zustand in einer erzkonservativen Kirche zu sitzen. Vielleicht bin ich doch anfälliger, als ich dachte für das Gerede von Tugend und Rechtschaffenheit? Zumindest musste ich in der Bahn an den Leitfaden für junge Damen denken, den ich erst gestern gelesen hatte. Was tat ich hier betrunken, gestyled und mitten in der Nacht? Eigentlich sollte ich längst schlafen, damit ich ausgeruht und im Vollbesitz meiner Kräfte wieder zur Kirche stiefeln konnte. Wie es sich eben gehört für ein rechtschaffenes Mädchen.
Eine durchgefeierte Nacht – teuflische Sünde oder teuflischer Spaß?
Aber darauf hatte ich einfach keine Lust. Stattdessen hatte ich Lust, unverantwortlich und sündig zu sein, angetrunken die Nacht durchzufeiern und erst wieder aus dem Club zu stolpern, wenn der Bäcker schon wieder frische Laugenstangen anbot. Das ist doch vollkommen in Ordnung. Eigentlich schon fast normal. Oder nicht?
Es ist entwürdigend, unsittlich, teuflisch. So steht es im Leitfaden. Es zerstört die Selbstbeherrschung und Rechtschaffenheit und ist eine Versuchung Satans. Zugegeben: Es ist ungesund. Und natürlich ist es auch degradierend, wenn man die Kontrolle über sich verliert. Und gewiss sind die Kopfschmerzen am nächsten Tag auch satanischen Ausmaßes. Aber in Maßen bringt es Spaß. Und was ist an Spaß teuflisch?
Sister Singer ist kaum älter als Anja, trotzdem wird gesiezt.
Das Aufstehen am nächsten Morgen ist es zumindest. Nach zwei Stunden Schlaf, drei Espressi und der Versammlung werde ich Sister Singer vorgestellt. Sie ist erst seit einer Woche in Hamburg, hat ihre Mission aber fast abgeschlossen. Ob sie Texas wohl vermisst? Sister Singer ist kaum älter als ich, vielleicht zwei Jahre und trotzdem weiß ich nicht einmal ihren Vornamen. Denn Sisters muss man siezen, die Distanz wahren. Sie ist petite, brünett und hat eine sanfte Stimme, der man gerne zuhört. Der Typ verletzliches Mädchen, das doch eigentlich niemals alleine in ein fremdes Land gehen würde, dessen Sprache sie nicht spricht und in dem sie niemanden kennt. Nur die Kirche.
Texte, die dich auch interessieren könnten.
- Für *Agnostiker: Karriere? Kind! 21. August 2011
- Für *Agnostiker: Zwischen iPhone und Erleuchtung18. August 2011
Noch keine Kommentare vorhanden.