Die Freistadt kauft sich selbst
13. Juli 2011
Von Julia Schulte
Die dänische Regierung verkauft das Gelände der Freistadt Christiania – an seine Besetzer, die dort seit Jahrzehnten selbstverwaltet und basisdemokratisch alternative Ideen verwirklichen.
Der Eingang zu einem Staat im Staat
Bild: Tino Höfert

Utopia beginnt in Kopenhagen direkt an der Prinsessegade. Dort gelangt man durch ein schmales Holztor nach Christiania. Zwischen bunten Häuschen, kleinen Sandwegen und einem malerischen Flußlauf erstreckt sich auf 34 Hektar die selbst ernannte Freistadt. Am tatsächlichen Status Christianias scheiden sich seit vier Jahrzehnten die Geister: Soziales Experiment, alternative Wohnsiedlung oder schlicht kriminelle Besetzung eines Militärgeländes – je nachdem, ob man mit Christianitern, Kopenhagenern oder konservativen Regierungsmitgliedern spricht, erhält man unterschiedliche Antworten.
Nach dem Krieg hatte ich keine Lust mehr zu fliegen. Ich habe eine alternative Lebensform gesucht und bin hier gelandet.
Das Abenteuer begann 1971, als junge Menschen die Absperrung zu den idyllischen Grünflächen niederrissen, um die nicht mehr genutzten Kasernen und das umliegende Gelände in Besitz zu nehmen. Einige kamen wegen der grassierenden Wohnungsnot, für viele ist Christiania eine Lebenseinstellung: "Ich war Helikopterpilot in der Armee.", erzählte mir bei meinem letzten Besuch ein Maler, der auf dem kleinen Markt Posterdrucke seiner Werke an Touristen verkaufte. "Als ich gesehen habe, was Krieg anrichten kann, hatte ich keine Lust mehr zu fliegen. Ich habe eine alternative Lebensform gesucht und bin hier gelandet." Er ist bereits kurz nach der Gründung hierhergezogen. Die Freistadt ist Zufluchtsort für Lebenskünstler und Gestrandete. Unter ihnen sind auch viele von der dänischen Gesellschaft immer noch ausgegrenzte Inuit.
Der Wiedereintritt in die EU sieht weniger einladend aus
Bild: Julia Schulte/TONIC

Seit der Gründung hat sich vieles getan: Die Kasernen sind umgebaut und fantasievoll bemalt worden, am Flussufer stehen neue Wohnstätten, die von einfachen Bauwagen bis hin zu kleinen architektonischen Meisterwerken mit schrägen Fassaden und vorspringenden Balkonen reichen. Auf dem Gelände gibt es Kindergärten und Werkstätten, Lädchen, Konzertschuppen und Museen. Nicht alle, die hier arbeiten, wohnen auch in der Freistadt. Die Platzvergabe für die Stände findet jedes Jahr durch öffentliche Abstimmung statt. Die öffentliche Versammlung ist das Herz der christianitischen Gemeinschaft. Dort werden nach ausgiebigen Diskussionen aller Bewohner die grundlegenden Entscheidungen gefällt. Verwaltung und die Auswahl der Leute, die sich neu hier niederlassen dürfen, übernehmen die 14 Bezirke der Freistadt. Das Konzept Basisdemokratie funktioniert: In 40 Jahren haben die Christianiter noch nicht ein einziges Mal die Strom- und Wasserrechnungen zu spät bezahlt, ihre Straßen sind sauber und eine Polizei halten sie nicht für notwendig.
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