Bewusstlos in der Messe
7. Juli 2011
Von Anna Mayr
Christ sein heißt für viele, das Glaubensbekenntnis mitmurmeln zu können. Menschen, die es ernst mit Gott meinen, sind selten geworden – oft landen sie in so genannten Freikirchen, die ein Stigma nicht loswerden: Das sind doch Sekten!
Bild: Katharina Hofer

Kaum jemand kommt wohl sein ganzes Leben darum herum, einmal an einem Gottesdienst teilzunehmen. Taufe, Einschulung, Konfirmation, Kommunion, Weihnachtsmesse. Nur wenige besuchen diese Pflichtveranstaltungen aus Leidenschaft. Glaube ist unserer Gesellschaft unwichtig geworden. Wir waren auf dem Mond, können Atome spalten und amüsieren uns im Zoo über unsere haarigen Vorfahren. Wir haben die Freiheit, die Welt zu bereisen und sind stolz auf die moderne Medizin. Wir sind davon überzeugt, keinen Glauben mehr zu brauchen, um ein glückliches Leben führen zu können. Kirche ist was für Rentner und eigentlich nur an Weihnachten schön, überhaupt ist Religion Opium fürs Volk und wer wirklich noch an einen imaginären Freund im Himmel glaubt, der sollte sein Weltbild schnell überdenken. Religion ist nichts, worüber man sich heutzutage definiert.
Natürlich gibt es in der Freikirche W-LAN
Mitten im nordrheinwestfälischen Industriegebiet liegt ein Gebäude, in dem das anders ist. An der Fassade steht groß der Schriftzug "Josua Kirche – Glauben gemeinsam erleben". Der Saal, in dem jeden Sonntag der Pfarrer predigt und die Gläubigen beten und singen, ist groß und mit sämtlicher moderner Technik ausgestattet. Von der hohen Decke hängen Beamer und Leinwand, auf der Bühne spielt jede Woche eine Band, bestehend aus Mitgliedern der Gemeinde. Im ganzen Haus gibt es natürlich W-LAN. Wer die deutsche Sprache nicht beherrscht, für den wird die Predigt über Kopfhörer von einem anderen Gemeindemitglied übersetzt. Der wichtigste Teil der Vormittagsgestaltung ist der "Lobpreis". Zu christlicher Musik in den Sprachen der über 20 verschiedenen Nationen, die sich hier treffen, wird laut musiziert, getanzt, geklatscht – Pastor und Gemeinde strecken ihre Hände nach oben, als würden sie einem Star zujubeln. "You came from heaven to earth, to show the way. From the earth to the cross, my debt to pay", singt das hübsche Mädchen am Keyboard. Sie ist nicht älter als zwanzig Jahre, trägt Jeans und T-Shirt. Der Gottesdienst ist hier weniger Andacht, als das gemeinsame Feiern eines Idols, das man nicht sehen kann. An der Wand hängen große, goldene Buchstaben, die beim Kindergottesdienst mit Glitzerfolie beklebt wurden: "DANKE JESUS".
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BrianAm 7. Juli 2011
Ich fühle mich unweigerlich an zwei Schulkameraden erinnert, die genau so leben und mit denen ich mal ein sehr interessantes, wenn auch ergebnisloses, Streitgespräch geführt habe.
Letztlich begeben sich alle diese Gläubigen jedoch in einen Zirkelschluss: jede Ungereimtheit, jedes naturwissenschaftliche Faktum wird von ihnen damit erklärt, dass es von Gott nun mal so vorgesehen sei – egal ob die Gewalt legitimierende Interpretation der Bibel (in der Geschichte) bzw. des Koran oder die Verbichtung der Juden; alles wird durch Gottes Willen begründet. An dieser Stelle gerät jeder weiterer Diskurs in eine Sackgasse ohne Ausweg. Ähnlich ist es, wenn die Betroffenen von ihren persönlichen Begegnungen mit Gott oder Jesus berichten (Visionen o.ä.) - was soll man dem entgegensetzen?
Man muss den Leuten ihren Glauben lassen, wenn er ihnen Halt gibt im Leben (=individualisierter Glaube), aber die Kirche als übermächtige Institutiom ist und bleibt ein Auslaufmodell! Oder?
FabianAm 7. Juli 2011
Diesen Schicksalsglauben finde ich sehr gefährlich, und dass Gott das Unerklärliche erklärt. Das macht sehr denkfaul, das lähmt, und das gefällt Gott ganz und gar nicht, da bin ich mir sicher. Ich glaube auch, dass es Gott lieber ist, wenn man mit ihm hadert, auch Streit mit ihm sucht, fragt, warum dies und das sein muss, anstatt ihm stets ohne Zweifel "blind vertraut".
UlliAm 9. Juli 2011
Ich stimme euch zu, und die Zeiten der "Kirche als übermächtige Institution" sind in "unserer Welt sicherlich vorbei, zumindest was die politische Beeinflussung der Gesellschaft anbelangt. Die Kirche als Organisation, die Menschen zusammenbringt, ihren Alltag mitgestaltet und Bedürftigen hilft – solange sie niemandem extremistische Haltung aufzwingen will – hat eine wichtige Funktion in unserer Gesellschaft und darf keines werden.
ChrissiAm 11. Juli 2011
Gott ist kein Lückenbüßer-Gott, den Mann noch ungeklärten wissenschaftlichen Fragen vorschieben kann. Auch das Leid und Unheil auf der Welt kann nicht mit Seinem Willen begründt werden. Warum will Er im Gegenteil das Leid gerade nicht? Er hat die Passion und den Tod Jesu durch die Auferstehung in ein Heilsgeschehen verwandelt.
ConnorAm 19. August 2011
Also ich war selber länger Teil einer freikirchlichen Gemeinde.
Und zu Brians Punkt, dass alles Übel mit Gottes Willen begründet wird, muss ich widersprechen. Jegliches von Menschen ausgelöstes Leid hätte sich doch nach der gläubigen Logik der Mensch selbst zu zu schreiben, da Gott ihm die Möglichkeit gegeben hat, selbst zu entscheiden.
ChrisAm 27. Juli 2015
Oh ja das kommt mir bekannt vor.
Ich habe einen guten Freund in einer "Josua Gemeinde" in Bautzen verloren. Durchgeknallte Sekten gibt es wohl überall.